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  • Das Patriarchat ist kein Männerclub, sondern ein System

    Das Patriarchat ist kein Männerclub, sondern ein System

    Ausgangspunkt ist das Gedicht Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung von Safiye Can


    Warum der Kampf gegen das Patriarchat dominiert – und warum das nicht das Ende der Debatte sein muss

    Der feministische Diskurs kreist heute unübersehbar um einen Begriff: das Patriarchat. Für viele Männer wirkt das wie ein Generalangriff – als würden sie pauschal zu Unterdrückern erklärt, obwohl sie sich selbst als Opfer desselben Systems erleben. Warum also dieser Fokus? Und wo bleibt die Anerkennung männlicher Verletzlichkeit?

    Das Patriarchat ist kein Männerclub, sondern ein System

    Das Missverständnis beginnt beim Wort selbst. „Patriarchat“ bedeutet nicht „alle Männer herrschen“, sondern beschreibt eine historisch gewachsene Struktur, die:

    • Männlichkeit als Norm setzt („Frauentechnikerin“, „Männerweinen nicht“),
    • Macht ungleich verteilt (Lohngefälle, politische Repräsentation),
    • Rollen zementiert (Frauen als Fürsorgerinnen, Männer als Ernährer).

    Das Paradox: Auch Männer leiden darunter – etwa wenn sie als „unmännlich“ gelten, weil sie Elternzeit nehmen. Doch der Widerstand dagegen formiert sich oft unter feministischen Vorzeichen. Warum?

    Die Asymmetrie der Betroffenheit

    Frauen waren jahrhundertelang rechtlich benachteiligt (kein Wahlrecht, kein Konto, kein Körperrecht). Der feministische Kampf richtet sich daher zuerst gegen diese historische Schieflage. Männliches Leid wird sichtbarer, sobald das System bröckelt – etwa durch:

    • Väter, die um Sorgerecht kämpfen (weil Gerichte Mütter bevorzugen),
    • Jungs, die unter Leistungsdruck zerbrechen („Sei stark!“).

    Doch diese Themen werden selten unter #PatriarchyIsOver diskutiert – nicht, weil sie unwichtig sind, sondern weil der Rahmen hier weibliche Perspektiven priorisiert.

    Die Sprachlücke der Männer

    Männer, die über patriarchale Verletzungen sprechen, stehen vor einem Dilemma:

    • Feministische Räume sind oft nicht der Ort dafür (zu Recht – es geht um marginalisierte Stimmen).
    • Männerbünde reproduzieren oft toxische Muster („Indianer weinen nicht!“).

    Resultat: Eine Debatte, die polarisiert – zwischen „Männer sind Täter“ und „Männer sind auch Opfer“.

    Wie wir aus der Falle herauskommen

    Die Lösung liegt weder in Abwehr noch in Selbstbezichtigung, sondern in differenzierter Solidarität:

    • Anerkennen, dass das Patriarchat alle deformiert – aber auf unterschiedliche Weise.
    • Eigene Räume schaffen, um männliche Verletzlichkeit zu thematisieren – ohne Feminismus zu torpedieren.
    • Brücken bauen: Feministinnen wie Laurie Penny betonen längst, dass Befreiung nur gemeinsam geht.

    Ein Gedankenexperiment zum Schluss:
    Stell dir vor, das Patriarchat ist ein Haus, in dem wir alle wohnen. Die Frauen kämpfen dafür, die Mauern einzureißen, die sie im Keller einsperren. Du als Mann sitzt im ersten Stock – frei herumzulaufen, aber bei offenem Fenster erkältest du dich trotzdem. Anstatt dich über ihre Lärmbelästigung zu beschweren, könntest du fragen: „Wie reißen wir das ganze Haus gemeinsam ein – und bauen etwas Neues?“

    „Wie können wir über das Patriarchat sprechen, ohne in die ‚Täter-Opfer‘-Falle zu tappen? Schreibt es mir in die Kommentare.“

    Zitat zum Mitnehmen:
    „Feminismus ist nicht da, um Männer zu entmachten – sondern um alle von engen Rollen zu befreien.“
    – Chimamanda Ngozi Adichie

    Aktiv:

    1. Höre zu – etwa beim Podcast „Auf den Schultern von Gigantinnen“ (feministische Perspektiven).
    2. Sprich dein Leid an – in Männergruppen oder Blogs wie „Männerdämmerung“.
    3. Handele – unterstütze Initiativen, die Rollenbilder für alle aufbrechen (z. B. Pinkstinks).


    „Patriarchat“ dominiert den Diskurs

    Wissenschaftliche Definition

    • Soziologie (Connell, 1987): Das Patriarchat ist ein „Geflecht aus Machtbeziehungen“, das Männlichkeit als Norm setzt und Frauen strukturell benachteiligt (inkl. nicht-binärer Personen).
    • Historischer Fakt: Bis 1977 durften Ehemänner in der BRD ihre Frauen vergewaltigen (§177 StGB). Solche Gesetze prägen bis heute Machtverhältnisse.

    Popkulturelle Verstärkung

    • Serien wie The Handmaid’s Tale zeigen patriarchale Unterdrückung drastisch – und lösen Debatten aus.
    • Gegenbewegung: Männerrechtler nutzen YouTube (z. B. „Die diskriminierten Männer“), was die Polarisierung verschärft.

    Psychologische Wirkung

    • „Defensive Masculinity“ (Wissenschaftsjournal Men and Masculinities, 2019): Männer, die sich als „Opfer“ des Feminismus sehen, reagieren oft aggressiv – weil das System ihnen vormacht, dass Schwäche bedrohlich ist.
  • Die Farbe Lila

    Die Farbe Lila

    Die Verbindung zwischen der Farbe Lila im Gedicht Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung von Safiye Can und Die Farbe Lila (Buch/Film) von Alice Walker ist eher indirekt. Dennoch gibt es Überschneidungen in der Symbolik:  

    Alice Walkers Roman Die Farbe Lila (1982) & Film (1985) erzählt vom Überleben und Empowerment/Ermächtigung einer schwarzen Frau (Celie) – heute PoC? – im rassistischen und sexistischen Süden der USA. 

    Lila steht hier für Spiritualität, Würde und weibliche Autonomie (Celie entdeckt ihre Kraft durch Liebe zu einer Frau und Selbstwert). Alice Walker verbindet die Farbe mit Queerness, Heilung und Widerstand.  

    Lila im Feminismus (deutschsprachiger Raum)

    Ursprung: In den 1970ern übernahmen deutsche Feministinnen Lila aus der US-Lesbenbewegung („Lavender Menace“), wo es für queere Sichtbarkeit stand.  

    Bedeutung:
    Kreativität & Utopie („lila Latzhosen“ der Frauenbewegung)  
    Protest (z. B. bei Demonstrationen)  
    Solidarität (ohne explizit heteronormativ oder weiß zu sein)  

    Verbindung zwischen beiden?  

    Gemeinsamkeit: Beide nutzen Lila als Gegenfarbe zu patriarchaler Dominanz („lila statt blau/rosa“).  

    Unterschied: Walkers Die Farbe Lila ist eine individuelle Befreiungsgeschichte.  

    Das Gedicht nutzt Lila als kollektives Symbol („Die Welt muss lila werden“ = Systemwechsel).  

    Popkulturelle Prägung 
    Der Film (1985 mit Whoopi Goldberg) machte die Farbe weltweit als feministisches Symbol bekannter – auch in Deutschland.  
    Allerdings war Lila hier schon vorher in Gebrauch (z. B. durch die Frauenfriedensbewegung der 1980er).

  • „Wie liest man ein Gedicht, das einen nicht meint?

    „Wie liest man ein Gedicht, das einen nicht meint?

    Konkret geht es um dieses Gedicht von Safiye Can: Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung

    Das Gedicht im Wortlaut (gekürzt):
    „Frauen / kauft von Frauen / lest von Frauen // […] / bildet eine Faust / werdet laut! // […] / Die Welt muss lila werden.“

    Was steht da?
    Die Autorin richtet sich in direkter Ansprache an Frauen. In kurzen, imperativischen Zeilen fordert sie sie auf:

    • Solidarisch zu handeln („kauft von Frauen“, „steht zueinander“),
    • Sich zu organisieren („schließt euch zusammen“, „bildet eine Faust“),
    • Ihre Macht zu erkennen („erkennt eure Kraft“).
      Das wiederholte „Frauen“ wirkt wie ein Aufruf zur kollektiven Identität. Das Ziel ist explizit: eine radikale Veränderung („Die Welt muss lila werden“).

    Wie sagt sie es?

    • Form: Kein Reim, keine Metaphern – die Sprache ist knapp, fast manifestartig.
    • Ton: Dringlich, aber nicht wütend; der Fokus liegt auf Empowerment, nicht auf Anklage.
    • Symbolik: „Lila“ als Farbe des Feminismus steht für die utopische Vision.

    Was fehlt?
    Männer werden nicht erwähnt – weder als Gegner noch als Verbündete. Das Gedicht kreist ausschließlich um weibliche Selbstermächtigung.

    Ein Text, der klar positioniert ist. Und ich? Als männlicher Leser stehe ich daneben – nicht als Adressat, aber auch nicht als Feindbild. Nur als jemand, der plötzlich spürt: Hier geht es um etwas, das mich nicht einschließt oder doch!? Und genau das wirft Fragen auf.


    Ein Gedicht, das mich nicht meint – und warum ich es trotzdem lese

    Ich blättere durch „Poesie und PANDEMIE“ – ein Gedichtband über Liebe, Politik, Natur. Dann dieser Text: Ein Aufruf an Frauen, sich zu verbünden, laut zu werden, die Welt „lila“ zu färben. Die Sprache ist bestimmt, die Bilder kraftvoll. Und ich? Ich komme darin nicht vor.

    Das ist legitim. Kunst, Literatur muss nicht alle einschließen. Kann es auch nicht. Doch warum hinterlässt das ein Gefühl Fremdkörper zu sein? Nicht, weil ich mich angegriffen fühle – sondern weil der Text mich zwingt, meine Position zu reflektieren:

    • Als Leser: Wie verstehe ich eine Botschaft, die nicht für mich bestimmt ist? Wie will ich mit dem Text umgehen?
    • Als Mann: Was bedeutet es, in einer Debatte Adressat statt Adressant zu sein?

    Vielleicht ist das die Absicht: Literatur, die ausschließt, um Bewusstsein zu schaffen. Die mir keine Rolle anbietet – außer die des Zuhörenden.

    Ich könnte weiterblättern. Aber das wäre zu einfach. Stattdessen stelle ich Fragen:

    • Wie liest man, was einen nicht meint?
    • Wann ist Exklusivität notwendig – und wann wird sie zum Hindernis?

    Ich halte das fest, weil Unsicherheit produktiv sein kann. Und weil ich wissen will: Wie gehen andere mit Texten um, die sie ignorieren – und trotzdem etwas auslösen?


    Eine Irritation als Geschenk

    Manchmal stolpert man über Worte, die einen ausschließen – und gerade das macht sie wertvoll. Dieses Gedicht, gerichtet an Frauen, ließ mich zunächst fragend zurück. Doch indem ich es nicht weglegte, sondern als Spiegel nutzte, schenkte es mir etwas Unerwartetes: eine Reise zu den Frauen meiner Familie, eine Ahnung von feministischer Lyrik – und am Ende sogar eigene Verse.

    Die drei Gaben des Gedichts und ein Dank an Frau Can

    Selbstreflexion
    Ich habe Aufruf als Anstoß genommen, um die Rollenbilder der Frauen in meiner Familie zu hinterfragen: meine Mutter die sich ‚klein atmete‘ – und die Freude, dass meine Tochter auf einem guten Weg ist.

    Historische Einordnung
    Dies ist kein ‚Männer-Bashing‘, sondern Teil einer langen Tradition. Frauen mussten und müssen sich Räume erst erkämpfen – auch wenn das für mich als Mann erstmal wie ein Ausschluss, ein Ausgrenzen wirkt. Dieses Gefühl wiederum führt mich dazu, meine eigene, fehlende Initiation nachzuholen.

    Kreative Antwort
    Aus der Leerstelle, die das Gedicht in mir ließ, entstand mein eigener Text – kein Widerspruch, sondern ein Echo. Vielleicht ist das die höchste Form des Dankes: dass Ihre Worte mich zum Schreiben brachten. >Lila und Blau<

    Der Kreis schließt sich
    Ein Gedicht ist kein Gefängnis – es ist ein Fenster, das man erst von außen putzt, dann von innen.

  • Safiye Can | Lyrikerin

    Safiye Can | Lyrikerin

    Safiye Can, geboren am 24. August 1977 in Offenbach am Main als Kind tscherkessischer Eltern, ist eine deutsche Dichterin, Schriftstellerin, literarische Übersetzerin sowie Künstlerin der konkreten und visuellen Poesie. Sie studierte Philosophie, Psychoanalyse und Rechtswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und schloss ihr Studium mit einer Magisterarbeit über Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ ab.

    Ihr literarisches Debüt gab sie 2014 mit dem Gedichtband „Rose und Nachtigall“, in dem sie klassische Motive der arabischen und persischen Dichtung mit Alltagssprache verbindet. Es folgten weitere Veröffentlichungen wie „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“ (2015), „Kinder der verlorenen Gesellschaft“ (2017) und „Poesie und Pandemie“ (2021).

    Ein besonderes Merkmal ihrer Arbeit ist die Beschäftigung mit konkreter und visueller Poesie. Sie gestaltet Gedichte nicht nur inhaltlich, sondern auch visuell, indem sie Texte in Form von Collagen präsentiert. Diese Herangehensweise verbindet die Bildlichkeit der Sprache mit der physischen Darstellung des Gedichts.

    Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit übersetzt Can Werke türkischer Dichter wie Nâzım Hikmet und Cemal Süreya ins Deutsche. Sie engagiert sich zudem in der Literaturvermittlung, leitet Schreibwerkstätten für Kinder und Jugendliche und arbeitet als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, darunter die Bauhaus-Universität Weimar und die Northern Arizona University in den USA.

    Für ihr literarisches Schaffen erhielt sie mehrere Auszeichnungen, darunter den Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis und den Alfred-Müller-Felsenburg-Preis für aufrechte Literatur, beide im Jahr 2016.

    Ein zentrales Anliegen von Safiye Can ist es, Menschen für Lyrik zu begeistern. Mit ihrem Motto „Lest Gedichte!“ fordert sie dazu auf, sich aktiv mit Poesie auseinanderzusetzen. Dieses Motto spiegelt ihren Wunsch wider, die Bedeutung von Gedichten im Alltag hervorzuheben und Menschen dazu zu ermutigen, die Tiefe und Vielfalt der Lyrik zu entdecken.

    Safiye Can lebt und arbeitet in Offenbach am Main, wo sie weiterhin aktiv zur deutschen Literaturszene beiträgt und sich für die Förderung der Poesie einsetzt.

  • Carolin Emcke | Journal -Tagebuch in Zeiten der Pandemie

    Carolin Emcke | Journal -Tagebuch in Zeiten der Pandemie

    In einer Welt, die plötzlich stillstand, fand Carolin Emcke Worte für das Unsagbare. Ihr „Journal – Tagebuch in Zeiten der Pandemie“ (2020) ist mehr als eine Chronik der ersten Covid-19-Monate – es ist ein seismografisches Werk, das die Erschütterungen einer globalen Krise einfängt und zugleich universelle Fragen über Menschlichkeit, Angst und Zusammenhalt stellt. Emcke, preisgekrönte Publizistin und scharfe Analytikerin gesellschaftlicher Umbrüche, wagt hier etwas Unerwartetes: Sie blickt nach innen und teilt ihre privatesten Zweifel, Ängste und Hoffnungen.

    Ein Tagebuch als Spiegel kollektiver Erfahrungen

    Vom März bis Juni 2020 dokumentiert Emcke in fragmentarischen Einträgen, wie die Pandemie nicht nur den öffentlichen Raum, sondern auch das private Innenleben verwüstet. Ihre Berliner Wohnung wird zum Mikrokosmos einer paralysierten Welt: Hier beobachtet sie, wie sich Zeit anfühlt, wenn Pläne zerbrechen – mal dehnt sie sich gummiartig, mal rast sie unerbittlich voran. Die Autorin, sonst als Reisende und politische Beobachterin unterwegs, wird zur Zeugin ihres eigenen Stillstands.

    Doch Emcke bleibt nie im Persönlichen stecken. Mit der Präzision einer Philosophin und der Empathie einer Chronistin verwebt sie Alltagsbeobachtungen – leere Supermarktregale, distanzierte Begegnungen im Park – mit existentiellen Reflexionen. Wie entsteht Solidarität, wenn Berührung verboten ist? Kann Kunst ein Rettungsanker sein, wenn die Realität unerträglich wird? Ihre Gedanken spannen einen Bogen von Hannah Arendts Analysen totalitärer Systeme bis zu James Baldwins Betrachtungen über gesellschaftliche Ohnmacht.

    Themen, die an die Haut gehen

    Im Herzstück des Buches pulsiert die Auseinandersetzung mit Angst – nicht als abstraktes Konzept, sondern als körperliche Erfahrung: „Angst ist nicht einfach nur ein Gefühl. Es ist eine Kraft, die uns entweder lähmen oder zu Handlungen inspirieren kann.“ Emcke seziert diese Ambivalenz: Wie verwandelt man lähmende Beklemmung in produktive Wachsamkeit?

    Ebenso eindringlich ist ihre Erkundung der Zeit. Die Pandemie, so zeigt sie, entlarvt die Illusion von Kontrolle über unser Dasein. In einem ihrer eindrücklichsten Vergleiche wird die Krise zum Brennglas: Sie vergrößert, was wir verdrängen – die Zerbrechlichkeit von Beziehungen, die Ungleichheit im Zugang zu Schutz, die Sehnsucht nach Gemeinschaft.

    Doch Emcke wäre nicht Emcke, würde sie nicht das Politische im Persönlichen aufspüren. Wenn sie von ihrer Einsamkeit im Homeoffice erzählt, wird darin das Schicksal aller sichtbar, die ohne sicheres Zuhause die Lockdowns überstehen mussten. Ihr Appell für Solidarität – „eine Praxis, die von uns verlangt, uns umeinander zu kümmern“ – wirkt wie ein Gegenmittel zur Vereinsamung.

    Kunst als Überlebensmittel

    Besonders reibend sind die Passagen, in denen Emcke die rettende Kraft der Kunst beschwört. Ob sie über Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ sinniert oder über die tröstende Kraft von Musikplaylists – stets zeigt sie: „Kunst ist nicht nur ein Luxus. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein.“ In ihrer Schilderung eines abendlichen Klavierkonzerts, das Nachbarn aus offenen Fenstern lauschen, verdichtet sich die Essenz des Buches: Schönheit als Akt des Widerstands.

    Ein Buch, das bleibt

    Carolin Emckes „Journal“ ist keine pandemische Momentaufnahme, sondern ein zeitloses Dokument menschlicher Resilienz. Was zunächst als Tagebuch einer Ausnahmesituation beginnt, entpuppt sich als Handbuch für den Umgang mit Ungewissheit – sei es in Gesundheitskrisen, politischen Umwälzungen oder persönlichen Brüchen.

    Mit poetischer Dichte und intellektueller Schärfe gelingt Emcke hier etwas Seltenes: ein Text, der gleichzeitig verwundbar und kraftvoll, privat und universell ist. Wer sich auf diese Reise durch die Abgründe und Lichtmomente der Pandemie einlässt, wird am Ende nicht nur Emckes Welt besser verstehen – sondern auch die eigene.


  • Safiye Can | Poesie und Pandemie

    Safiye Can | Poesie und Pandemie

    Der Lyrikband „Poesie und Pandemie“ der Autorin Safiye Can erschien am 26. Juli 2021 im Wallstein Verlag in Göttingen 1. Das 96 Seiten umfassende Hardcover umfasst Gedichte, die sich mit der COVID-19-Pandemie sowie mit anderen gesellschaftlichen „Pandemien“ auseinandersetzen 1. Der Band, der bereits in zweiter Auflage vorliegt, kostet 18,00 € (Deutschland) beziehungsweise 18,50 € (Österreich) und enthält acht teils farbige Abbildungen 1.

    Die Gedichtsammlung thematisiert auf vielfältige Weise die Auswirkungen der Pandemie, wobei der Begriff „Pandemie“ im Titel bewusst weit gefasst wird 3. So werden neben der COVID-19-Pandemie auch andere globale Krisen und Missstände wie Diskriminierung, Rassismus und die Benachteiligung von Frauen in den Blick genommen 1. Die Verse fragen danach, was diese Pandemien mit den Menschen machen und welche Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen gezogen werden können oder sollten 3.

    Was im Feuilleton geschrieben wurde:

    Christine Lauer vom Tageblatt hebt in einer Rezension die „kaleidoskopische Vielfalt“ des Bandes hervor und betont, wie umfassend und schmerzhaft die Pandemie als kollektive Erfahrung dargestellt wird 1. Ein Kapitel trägt den Titel „Windlicht für dunkle Tage“ 4, was auf ein intendiertes Motiv des Trostes und der Hoffnung in schwierigen Zeiten schließen lässt. Die Verbindung von COVID-19 mit anderen gesellschaftlichen Problemen legt eine Betrachtung der Pandemie als Teil eines größeren Geflechts globaler Herausforderungen nahe 1.

    In einem Interview äußert sich Safiye Can zu ihrem Schreiben und betont ihre „Pflicht, als Autorin nicht zu schweigen“ angesichts gesellschaftspolitischer Ereignisse wie dem Anschlag in Hanau 2020 oder dem Umgang mit sogenannten Einzeltätern 6. Timo Brandt von signaturen-magazin.de analysiert in seiner Rezension das Gedicht „Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung“ und zitiert daraus: „Frauen. kauft von Frauen. lest von Frauen. Frauen. erkennt eure Kraft. erkennt eure Macht. Die Welt muss lila werden. Die Welt. wird. lila. werden!“ 7. Dieses Zitat verdeutlicht die Auseinandersetzung mit feministischen Themen innerhalb der Sammlung. Brandt erwähnt ebenfalls den Beginn des Gedichts „Wir gehören zusammen“: „Wenn in Hanau eine türkische Mutter weint / um den Tod ihres Sohnes / weint eine deutsche Mutter mit / und sie sind sich nie begegnet / Eine Mutter ist eine Mutter / Wir sind eins / wir gehören zusammen.“ 7. Dieses Beispiel illustriert die Thematisierung von Empathie und gemeinsamer Menschlichkeit angesichts von Tragödien. Die Einbeziehung konkreter Ereignisse wie des Anschlags in Hanau unterstreicht die Rolle der Poesie als eine Form der Auseinandersetzung mit realen gesellschaftlichen Geschehnissen 6.

    Die Lyrik in „Poesie und Pandemie“ bedient sich einer Vielfalt an Formen, darunter Collagen, konkrete und visuelle Poesie, Langgedichte sowie konventionellere Gestalten 2. Charakteristisch für Cans Stil sind Rhythmik und Klang, unerwartete Wendungen und eindringliche Bilder 2. Das mitunter Schmerzliche, das in den Gedichten zum Ausdruck kommt, wird in einen einnehmenden musikalischen Ton überführt 1. Elisabeth Stuck vom Blog lauftext zitiert in einer Rezension die Mischung aus „Banalem“ und „Witzigem“ sowie die eingearbeiteten Nachrichtenmeldungen, die den Rhythmus der Gedichte aufbrechen 1. In einem Interview spricht Safiye Can über ihr Gedicht „Integration“, das die Form der konkreten Poesie nutzt, und über das Langgedicht „Poesie und Pandemie“, in das sie collagenartig Nachrichtenmeldungen einwebt. Sie betont dabei die Bedeutung des „Spielens mit der Sprache“ 6. Auf lauftext.com wird zudem Cans Faszination für konkrete Poesie, visuelle Poesie und Textcollagen erwähnt 5. Die Verwendung unterschiedlicher Formen unterstreicht einen experimentellen Ansatz, der möglicherweise die fragmentierte Erfahrung der Pandemie widerspiegelt.

    Die Autorin selbst bezeichnet in einem Interview ihre politische Lyrik als Ausdruck der „Liebe zum Menschen“ 6. Der Titel eines Kapitels, „Windlicht für dunkle Tage“ 4, deutet darauf hin, dass Can mit ihren Gedichten Trost und Orientierung in schwierigen Zeiten spenden möchte. In einem Gespräch mit der Büchergilde äußert sie, dass sie während des Ausbruchs der Pandemie an einem anderen Gedichtband arbeitete, aber das Bedürfnis verspürte, diese „Ausnahmesituation aus der Ausnahmesituation heraus“ (Memo: Auch Carolin Emcke) festzuhalten. Die Verse seien ihr förmlich zugeflossen 6. Sie habe mit dem Schreiben kaum nachgekommen und sah es als ihre „Pflicht, als Autorin nicht zu schweigen“ 6. Can beabsichtigte, mit dem Band ein „Zeitdokument“ für alle zu schaffen, die diese Zeit bewusst oder unbewusst erlebt haben, und die Verstorbenen sowie deren Angehörige nicht in Vergessenheit geraten zu lassen 6. Zudem hofft sie, dass ihre Leserinnen und Leser auch lachen können, da Lachen ein Mittel zur Verarbeitung von Traumata sei 6. Das Motto des Buches, ein Zitat von Søren Kierkegaard: „Sieh, darum will ich lieber Schweinehirt sein auf Amaberbro und von den Schweinen verstanden sein, als Dichter sein und mißverstanden von den Menschen.“8, könnte darauf hindeuten, dass Can Wert darauf legt, verständlich zu sein und eine breite Leserschaft zu erreichen.

    Einige prägnante Zitate aus dem Band verdeutlichen die thematische und stilistische Vielfalt. So wird in Rezensionen der Titel „Windlicht für dunkle Tage“ 2 als charakteristisch genannt. Das Gedicht „Wir gehören zusammen“ enthält die Zeilen „Eine Mutter ist eine Mutter. Wir sind eins. wir gehören zusammen. Eine Frau ist verliebt in eine Frau. ein Mann verliebt in einen Mann. Ja, und? Liebe ist Liebe. Wir sind eins. wir gehören zusammen.“ 7. Der Titel „Liebe zur Quarantänezeit“ 2 verweist auf die unmittelbare Auseinandersetzung mit den besonderen Umständen der Pandemie. Die Beschreibung als „messerscharf und doch voller Menschenfreundlichkeit“ 2 fasst eine weitere Facette des Bandes zusammen. Timo Brandt zitiert aus dem Gedicht „Poesie und Pandemie“ die Zeile „und schon bist du Hauptdarsteller*in einer Pandemie“ 7, welche die plötzliche und einschneidende Natur der Pandemie für den Einzelnen verdeutlicht. Die Wiederholung des Satzanfangs „Wenn du eine Frau bist“ in 53 Versen des gleichnamigen Gedichts 5 demonstriert Cans Einsatz von Repetition als stilistisches Mittel.

    Die Rezeption von „Poesie und Pandemie“ fällt insgesamt überwiegend positiv aus, wenngleich auch kritische Stimmen zu vernehmen sind. Zahlreiche Rezensionen loben die thematische Vielfalt und die Art und Weise, wie die Pandemie als kollektive Erfahrung dargestellt wird 1. Michael Augustin von Lesart bezeichnet den Band als „Gedichtband für die seelische Hausapotheke“ 1, während Matthias Ehlers auf WDR5 von „einem Haufen guter Gedichte“ spricht 1. Christine Lauer (Tageblatt) hebt hervor, dass Cans Lyrik „eingängig und raffiniert zugleich“ sei und zwischen „lyrischem Bild und einem starken gesellschaftspolitischen Engagement“ oszilliere 1. Andreas Wirthensohn (Wiener Zeitung) nennt die Gedichte „höchst fein beobachtete, erfrischende und vor allem alles andere als wehleidige Lockdown-Lyrik“ 1. Barbara von Korff-Schmising (Der evangelische Buchberater) betont das Engagement der Gedichte und deren Fähigkeit, konkret Erlebtes in Erinnerung zu rufen 1. Uta Grossmann (Evangelische Zeitung) lobt die „kunstvollen Collagen“, die über die Wortkunst hinaus Assoziationsräume eröffnen 1. Elisabeth Stuck (Blog lauftext) empfiehlt, den Band in die Hand zu nehmen und sich darin zu vertiefen 1, und das Höchster Kreisblatt lobt die Mischung aus Banalem und Witzigem sowie den Umstand, dass der Band Lust auf mehr Lyrik mache 1. Lars Hennemann (Rhein-Zeitung) bezeichnet die Gedichte als „messerscharf und doch voller Menschenfreundlichkeit“ 1.

    Demgegenüber äußert Björn Hayer in der Frankfurter Rundschau eine kritischere Perspektive. Er empfindet einige Gedichte als „wohlfeile ‚Glückskeks-Poesie’“ und bemängelt, dass das Lamento über Nationalismus und Sexismus die Sammlung verwässere. Positiv hebt er jedoch die Liebesgedichte über verpasste Küsse hervor 3. Timo Brandt von signaturen-magazin.de schätzt zwar Cans Empathie und ihr Engagement, kritisiert jedoch, dass einige Gedichte, insbesondere „Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung“ und der Beginn von „Wir gehören zusammen“, eher wie Slogans wirken 7. Er bemängelt das Fehlen von Offenheit und Ambivalenz und empfindet das lange Gedicht „Poesie und Pandemie“ als zu wenig persönlich und eher wie einen Nachrichtenbericht 7. Das Gedicht „Wenn du deine Frau bist“ wird von ihm jedoch als sehr gelungen hervorgehoben 7. Die unterschiedlichen Reaktionen zeigen, dass der Band bei verschiedenen Leserinnen und Lesern unterschiedliche Eindrücke hinterlässt, wobei die Direktheit und das starke gesellschaftspolitische Engagement sowohl gelobt als auch kritisiert werden.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Poesie und Pandemie“ von Safiye Can eine vielfältige Sammlung von Gedichten darstellt, die sich auf unterschiedliche Weise mit den Auswirkungen der Pandemie und anderen gesellschaftlichen Herausforderungen auseinandersetzt 3. Die Gedichte bedienen sich verschiedener Formen und zeichnen sich durch Rhythmik, Klang und unerwartete Wendungen aus 2. Die Autorin beabsichtigt, mit ihren Versen ein „Windlicht für dunkle Tage“ zu schaffen 4 und die Erfahrungen dieser besonderen Zeit zu dokumentieren 6. Die kritische Rezeption des Bandes ist überwiegend positiv, wobei besonders das Engagement und die thematische Bandbreite gelobt werden. Einzelne Kritiker bemängeln jedoch eine gewisse Direktheit und den stellenweisen Mangel an poetischer Subtilität 3. Dennoch bietet „Poesie und Pandemie“ einen Einblick in die vielschichtigen Erfahrungen und Reflexionen einer außergewöhnlichen Zeit aus der Perspektive einer engagierten Lyrikerin.

    Referenzen

    1. Poesie und Pandemie – Safiye Can – Wallstein Verlag, Zugriff am März 24, 2025, https://www.wallstein-verlag.de/9783835350083-poesie-und-pandemie.html
    2. Poesie und Pandemie: Gedichte : Can, Safiye – Amazon.de, Zugriff am März 24, 2025, https://www.amazon.de/Poesie-Pandemie-Gedichte-Safiye-Can/dp/3835350080
    3. Safiye Can: Poesie und Pandemie. Gedichte – Perlentaucher, Zugriff am März 24, 2025, https://www.perlentaucher.de/buch/safiye-can/poesie-und-pandemie.html
    4. Poesie und Pandemie von Safiye Can – faltershop.at, Zugriff am März 24, 2025, https://shop.falter.at/detail/9783835350083/poesie-und-pandemie
    5. Safiye Can – Porträt einer Autorin – lauftext-Literaturblog, Zugriff am März 24, 2025, https://www.lauftext.com/safiye-can
    6. Safiye Can – HerzSchlagDrama – Büchergilde, Zugriff am März 24, 2025, https://www.buechergilde.de/aktuelles-2023-safiye-can-herzschlagdrama
    7. Safiye Can: Poesie und Pandemie – Signaturen-Magazin, Zugriff am März 24, 2025, https://signaturen-magazin.de/safiye-can–poesie-und-pandemie.html
    8. Vom Händewaschen und Verseschreiben zu Zeiten der Pandemie(n) – Safiye Can versucht in ihrem neuen Lyrikband „Poesie und Pandemie“, dem Unvorhersehbaren eine Form zu geben : literaturkritik.de, Zugriff am März 24, 2025, https://literaturkritik.de/can-poesie-und-pandemie,28232.html
  • wespennest – brauchbare texte

    wespennest – brauchbare texte

    Das Literaturmagazin Wespennest ist eine seit 1969 bestehende österreichische Literaturzeitschrift, die in Wien herausgegeben wird und sich als feste Größe in der deutschsprachigen Kulturszene etabliert hat. Gegründet in einer Ära des gesellschaftlichen Aufbruchs – geprägt von Studentenbewegungen und künstlerischer Experimentierfreude – spiegelt das Magazin bis heute den Geist kritischer Auseinandersetzung wider. Seine Anfänge waren von einer rebellischen Haltung und einer experimentellen Ausrichtung geprägt, die sich in der Verbindung von Literatur, bildender Kunst und gesellschaftspolitischen Debatten manifestierte. Über die Jahrzehnte hat sich die Zeitschrift kontinuierlich weiterentwickelt, ohne ihre grundlegende Mission aus den Augen zu verlieren: die Förderung anspruchsvoller, dialogorientierter Kunst.

    Als Plattform für „brauchbare Texte und Bilder“ setzt das Wespennest bewusst auf Inhalte, die über reinen Unterhaltungsjournalismus hinausgehen. Das Spektrum der Veröffentlichungen umfasst Prosa, Lyrik, Essays, Interviews sowie visuelle Kunst, wobei ein besonderer Fokus auf der Entdeckung neuer literarischer Stimmen liegt. Jede der vier jährlich erscheinenden Ausgaben widmet sich einem thematischen Schwerpunkt, der gesellschaftlich relevante Fragen aufgreift. Behandelte Themen reichen dabei von Migration, ökologischer Krise und digitalem Wandel bis zu Diskursen über Identität oder globale Ungleichheit. Diese interdisziplinäre Herangehensweise verbindet literarische Qualität mit analytischer Tiefe.

    Die Bedeutung des Magazins unterstreicht auch die Würdigung durch die Jury des Victor Otto Stomps-Preises, die das Wespennest als eine der „innovativsten und zugleich renommiertesten Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum“ bezeichnete. Mit seiner internationalen Ausrichtung – etwa durch Beiträge aus Osteuropa, Lateinamerika oder Asien – schafft die Zeitschrift seit über fünf Jahrzehnten einen transnationalen Dialog. Heute gilt das Wespennest nicht nur als Forum für literarische Avantgarde, sondern auch als Reflexionsraum für zeitgenössische Debatten, der Autoren, Künstlerinnen und Denkende gleichermaßen anzieht.

  • perspektive – Hefte für zeitgenössische Literatur

    perspektive – Hefte für zeitgenössische Literatur

    Hier ist der überarbeitete Text ohne Wertungen:


    Die perspektive – Hefte für zeitgenössische Literatur ist eine seit 1977 erscheinende Literaturzeitschrift mit Sitz in Graz. Ursprünglich als Schülerliteraturzeitung gegründet, entwickelte sie sich zu einer Plattform für avantgardistische und experimentelle Literatur. Seit den 1980er-Jahren publiziert sie Texte mit gesellschaftskritischem Fokus, darunter Beiträge zur Hausbesetzerszene oder feministische und pazifistische Ansätze.

    In den 1990er-Jahren übernahm ein neues Redaktionsteam die Leitung. Seitdem beschäftigt sich die Zeitschrift mit avantgardistischen Strömungen und literaturkritischen Fragestellungen. Die Herausgeber setzen sich mit den Paradigmen der Moderne auseinander und positionieren die Zeitschrift außerhalb etablierter literarischer Strömungen.

    Die perspektive veröffentlicht pro Jahr etwa zwei Ausgaben in einer Auflage von 1.000 Exemplaren. Zu den Autoren, die dort publiziert haben, gehören unter anderem Wolfgang Bauer, Friederike Mayröcker, Erich Fried, Franzobel, Safiye Can und Ilse Kilic. Die Zeitschrift stellt eine Plattform für Literatur bereit, die sich mit klassischen Avantgarden und Neo-Avantgarden auseinandersetzt.

    Weitere Informationen sowie aktuelle Ausgaben sind auf der Website des Literaturmagazins zu finden.

  • Die Stadt schluckt ihr Gelächter (frei nach J. v. Eichendorff)

    Die Stadt schluckt ihr Gelächter (frei nach J. v. Eichendorff)

    Die Stadt schluckt ihr Gelächter,
    die Bildschirme flackern aus –
    Dann hebt die Erde an zu sprechen,
    ein Flüstern durch Beton und Asphalt,
    von Wäldern, die wir nie gepflanzt,
    von Flüssen, die wir Strom nannten.
    Etwas Altes, fast vergessen,
    zieht durch die Algorithmen:
    Ein Schauer, der nicht messbar ist,
    ein Blitz im Datennebel –
    Wir sind noch immer hier.

    Basierend auf diesem Gedicht
    Schweigt der Menschen laute Lust:
    Rauscht die Erde wie in Träumen
    Wunderbar mit allen Bäumen,
    Was dem Herzen kaum bewußt,
    Alte Zeiten, linde Trauer,
    Und es schweifen leise Schauer
    Wetterleuchtend durch die Brust.

    – Josef von Eichendorff

    Was ist heute anders?

    Natur als bedrohte Gegenwelt:
    Statt idyllischer Bäume stünde die zerstörte/verdrängte Natur im Fokus (Klimakrise, Urbanisierung). Die Erde „spricht“ nicht träumerisch, sondern als Mahnung („Wälder, die wir nie gepflanzt“).

    Technologie als Störung und Spiegel:
    Moderne Unruhequellen wären Digitalisierung, ständige Erreichbarkeit („Bildschirme“, „Algorithmen“). Doch auch hier dringt das Zeitlose ein: Der „Schauer“ bleibt analog, unkontrollierbar.

    Sehnsucht nach Echtheit:
    Das „kaum Bewusste“ bei Eichendorff würde zur Suche nach Identität in einer entfremdeten Welt: Wir spüren Leere trotz Vernetzung, sehnen uns nach dem „Nicht-Messbaren“.

    Sprache und Rhythmus:
    Kürzere, prägnantere Bilder („Blitz im Datennebel“), weniger Blumenmetaphern. Der Rhythmus wäre gebrochener, unruhiger – wie das moderne Leben.


    Warum das Gedicht auch heute funktioniert

    Der Mensch als Suchender:
    Eichendorffs „leise Schauer“ sind heute existenzielle Zweifel („Sinnleere“, Klimaangst). Doch das Staunen über das Unerklärliche – sei es Natur oder eigene Emotion – bleibt.

    Natur als Seelensprache:
    Auch wenn wir Wälder roden: Das Rauschen von Bäumen, das Weite des Himmels berührt uns tiefenpsychologisch. Die Romantik erkannte, was die Neurowissenschaft heute bestätigt: Natur wirkt auf uns wie eine Ur-Erinnerung.

    Stille als Revolte:
    In einer Welt des Lärms (physisch wie digital) wird Stille zum radikalen Akt. Eichendorffs Schweigen der „lauten Lust“ wäre heute ein Abschalten der Apps, ein Innehalten gegen die Beschleunigung.


    Ein modernes Eichendorff-Gedicht wäre dystopischer, aber nicht hoffnungslos. Es würde die Verwundbarkeit der Natur und unsere eigene digitale Überforderung thematisieren – doch im Kern bliebe die Frage: Was macht uns wirklich menschlich?
    Die Antwort läge, wie bei Eichendorff, im Unsagbaren: im „Schauer“, der durch alle Zeiten „wetterleuchtet“.

  • Schweigt der Menschen laute Lust

    Schweigt der Menschen laute Lust


    Versuch einer Interpretation|Josef von Eichendorff thematisiert hier die Verschmelzung von Natur und innerem Erleben.

    Stille vs. Naturklang: Die „laute Lust“ der Menschen verstummt, während die Natur („Erde“, „Bäume“) lebendig wird und ein rauschendes, träumerisches Eigenleben entfaltet. Dies deutet auf eine kritische Haltung zur weltlichen Hektik hin; erst in der Stille öffnet sich der Raum für seelische Tiefe.

    Erinnerung und Melancholie: Die „alten Zeiten“ und „linde Trauer“ verweisen auf eine sehnsuchtsvolle Rückbesinnung – nicht schmerzhaft, sondern sanft, fast tröstlich. Die Natur wird zum Spiegel unausgesprochener Gefühle („kaum bewusst“).

    Emotionen als Naturgewalt: Die „leise Schauer“ gleichen einem „Wetterleuchten“ – ein Bild für plötzliche, flüchtige Gefühlsblitze (Liebe, Sehnsucht, Angst), die die Seele kurz erhellen, aber nicht greifbar sind.

    Typisch für Eichendorff ist die magische Durchdringung von Außenwelt und Innenwelt: Die Natur ist nicht nur Kulisse, sondern aktiver Mittler zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem, Bewusstem und Unterbewusstem.


    Moderne Übertragung – Eine Übung

    Wenn der laute Trubel der Menschen verstummt,
    rauscht die Erde wie in einem Traum,
    wunderbar mit all ihren Bäumen.
    Dann spürt das Herz – kaum bewusst –
    die alten Zeiten, eine sanfte Traurigkeit,
    und leise Schauer ziehen hindurch,
    wie ein fernes Wetterleuchten.

    Die laute Freude der Menschen verstummt –
    Die Erde raunt wie im Traum,
    Zauberhaft mit jedem Baum,
    Was das Herz kaum ahnt, kaum fühlt:
    Alte Tage, sanftes Weh,
    Und es zieht ein leis‘ Geschehn,
    Wie ein Blitzen durch die Seele.


    Anmerkungen zur heutigen Sprache

    Die Übertragung behält die bildhafte Kernaussage bei, löst sich aber vom strengen Rhythmus und veralteten Wendungen (z. B. „Schweifen leise Schauer“ → „zieht ein leis‘ Geschehn“). Begriffe wie „Wetterleuchten“ werden zu „Blitzen“ vereinfacht, um die elektrisierende, flüchtige Emotion klarer zu vermitteln. „Seele“ ersetzt „Brust“ für eine direktere Lesart.

    Mir fällt es schwer, mich auf diesen Rhythmus einzulassen. Zunächst versuche ich, das Gedicht in heutige Sprache zu übersetzen; einen Türöffner zu finden. Dann drifte ich ab und mir fällt eine kurze Erzählung dazu ein, die mich zu einem weiteren Gedicht; eher Liedtext führt;als harter sprachlicher Kontrast. Und so kommt eins zum nächsten. Was lese ich noch von Eichendorff? Etwas längeres? > Die Erzählung.

  • Im Eiscafé – Die Gedanken sind frei

    Im Eiscafé – Die Gedanken sind frei

    Das Eiscafé schwitzte unter Bleiglaslicht. Abgasschwaden krochen über Tischkanten, mischten sich mit dem Sirupgeruch schmelzender Eiswolken. Ein Junge hockte über verkabelten Geräten, die Hände um eine kalte Limonadenflasche geklammert.

    Sie ließ sich in den Stahlrohrstuhl sinken, als trüge sie Jahrzehnte im Handtaschenleder. Ihre Augen suchten den Ort, an dem früher das Klingeln von Straßenbahnen durch offene Fenster schwappte und Männer mit Zeitungen über Marx stritten wie über Schachzüge.

    „Bleib sitzen“, raunte sie, als er sich zum Aufstehen anschickte. Sein Pullover atmete den Duft von Mikrowellenessen und endlosen Nachmittagen.

    Er hielt ihr ein Kabel hin, an dessen Ende weiße Muscheln aus Kunststoff baumelten. „Damit erstickst du die Welt. Spielst nur noch deinen eigenen Soundtrack.“

    Sie betastete die glatte Oberfläche wie ein Fossil. „Früher haben wir hier Revolutionen gebraut. Mit Worten, nicht Wellenlängen.“
    Seine Finger zuckten über den Bildschirm – ein nervöses Zählen unsichtbarer Münzen. „Und? Habt ihr gewonnen?“

    Ihr Lachen war das Rascheln vergilbter Seiten. Plötzlich durchschnitt eine Stimme die Klimaanlagenluft, spröde wie Kreide auf Schiefertafeln: „Die Gedanken sind frei…“

    Das Summen der Kühltheke synchronisierte sich zum Walzertakt. Hinter der Theke klirrte jemand Taktzeichen in Espressotassen. Selbst der Verkehr draußen schien einen Herzschlag lang den Rhythmus zu halten.

    „Klingt wie Wasserhahnmusik“, flüsterte er, doch sein Nackenhaar sträubte sich. Als hätte jemand die Firewall zwischen den Epochen geknackt.

    „Genau so.“ Sie strich über das Kabel wie über einen Rosenkranz. „Sie pfeifen es in U-Bahn-Schächten. Flüstern es hinter vorgehaltener Hand. Je lauter sie schreien, desto tiefer gräbt es sich ein.“

    Er schob einen Kopfhörer über ihr Ohr, behutsam, als fürchte er, sie könne zerbröckeln. „Hör mal Track sieben. Da ist… so was Ähnliches.“

    Über der Tür rotierte eine Kamera. Irgendwo kreischte eine Säge durch Stahlträger. Doch für diesen Moment war der Lärm nur Vorhang vor einem alten Theater, in dem noch immer Stücke ohne Drehbuch aufgeführt wurden.

    Das Lied „Die Gedanken sind frei“.

  • „Die Gedanken sind frei“ – Ein Lied

    „Die Gedanken sind frei“ – Ein Lied

    Das Lied „Die Gedanken sind frei“ ist weit mehr als ein Volksklassiker. Es verkörpert eine jahrhundertealte Idee: die Unzerstörbarkeit der Gedanken- und Gewissensfreiheit. Seine Wurzeln reichen bis in die Antike, als Philosophen wie Seneca die Macht des Geistes über äußere Fesseln betonten. Im Mittelalter griffen Minnesänger wie Walther von der Vogelweide oder Dietmar von Aist das Motiv auf, doch erst im 18. Jahrhundert formte sich der heute bekannte Text auf Flugblättern der Aufklärung. Als August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Lied 1842 in seine Sammlung Schlesische Volkslieder aufnahm, wurde es zum Soundtrack des politischen Widerstands – gegen Zensur, Obrigkeit und später gegen Diktaturen.

    Die Melodie via pixabay…eingespielt von JuliusH.

    Vom Mittelalter zur Moderne: Ein Lied im Wandel
    Die Melodie, schlicht und eingängig, stammt vermutlich aus dem Volksliedgut des 18. Jahrhunderts. Der Text hingegen ist ein Mosaik aus mündlicher Überlieferung: Strophen wurden umgestellt, weggelassen oder angepasst. So verschwand etwa die Strophe über „Wein und Mädchen“ in vielen Versionen, da sie als moralisch zweideutig galt. Doch gerade diese Flexibilität machte das Lied zum Chamäleon – es ließ sich in jeder Epoche neu interpretieren, ob im Kerker des Vormärz, vor den Trümmern des Reichstags 1948 oder bei Protesten gegen die SED-Diktatur.

    Thematisches Herzstück: Freiheit trotz Fesseln
    Die Kernbotschaft ist zeitlos: „Und sperrt man mich ein / […] Die Gedanken sind frei!“ Selbst in physischer Gefangenschaft bleibt der Geist unbesiegbar. Diese Haltung verbindet das Lied mit der Romantik – etwa mit Joseph von Eichendorff, der in Werken wie „Aus dem Leben eines Taugenichts“ innere Freiheit gegen gesellschaftliche Zwänge feierte. Zwar gibt es keine direkte Verbindung zwischen Eichendorff und dem Lied, doch beide entstanden in einer Zeit (Restaurationsphase nach 1815), die Sehnsucht nach geistiger Autonomie weckte.

    Politische Ikone: Von Sophie Scholl bis zum Kalten Krieg
    In der NS-Zeit wurde das Lied zur heimlichen Hymne des Widerstands. Sophie Scholl spielte es 1942 auf der Blockflöte vor dem Gefängnis ihres Vaters, inhaftierte Regimegegner sangen es in Zellen. 1948, während der Berlin-Blockade, erklang es spontan nach Ernst Reuters Appell „Schaut auf diese Stadt!“ – ein Symbol des Freiheitswillens im beginnenden Kalten Krieg. Auch in der DDR wurde es bei Protesten gesungen, etwa 1989. Bis heute erklingt es bei Demonstrationen für Menschenrechte oder digitale Freiheit.

    Globaler Widerhall: Jiddische Lieder und universelle Sehnsucht
    Interkulturell spiegelt sich die Botschaft in Liedern unterdrückter Gemeinschaften wider. Das jiddische „Dona Dona“ („Oyfn Veg Shteyt a Boym“) etwa vergleicht ein gefangenes Kalb mit einer freien Schwalbe – ähnlich der Metapher der ungebundenen Gedanken. Auch Partisanenlieder wie „Zog nit keynmol“ (Hymne jüdischer Widerstandskämpfer) betonen, dass Hoffnung selbst im Abgrund überlebt. Solche Parallelen entstanden nicht durch direkten Austausch, sondern durch shared trauma und die universelle Erfahrung: Gedanken sind die letzte Bastion der Freiheit.

    Von der Romantik zur Popkultur: Ein Lied lebt weiter
    Künstler aller Genres haben das Lied adaptiert – vom klassischen Zitat in Richard Strauss’ Oper Capriccio bis zu Punkversionen von Die Toten Hosen. Bands wie Daniel Kahn & The Painted Bird verbinden es sogar bewusst mit jiddischem Liedgut und schaffen so eine Brücke zwischen deutschen und jüdischen Widerstandstraditionen.

    Ein Code der Menschlichkeit
    „Die Gedanken sind frei“ ist ein kultureller Code, der Epochen und Grenzen überwindet. Es erinnert daran, dass Freiheit nicht erst bei Rederechten beginnt, sondern im Kopf – eine Botschaft, die in Zeiten digitaler Überwachung oder autoritärer Regime nichts an Brisanz verloren hat. Ob im Mittelalter, im jiddischen Schtetl oder auf heutigen Straßen: Solange Menschen singen, dass ihre Gedanken frei sind, bleibt die Hoffnung ungefesselt.

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