Sieben Billionen Jahre vor meiner Geburt
war ich eine Schwertlilie.
Meine Wurzeln
saugten sich
in einen Stern.
Auf seinem dunklen Wasser
schwamm
meine blaue Riesenblüte.
Von 1898 || Dies ist die erste Fassung des Gedichtes; der Titel wurde erst viele Jahre später von Arno Holz hinzugefügt.
Das Gedicht verbindet Natur, Kosmos und Zeit auf poetische Weise und erzählt von einer Existenz, die weit über die Geburt hinausreicht. Mit der Behauptung, sieben Billionen Jahre vor der Geburt eine Schwertlilie gewesen zu sein, stellt das lyrische Ich seine eigene Existenz in einen nahezu unermesslichen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang. Es löst die Grenzen zwischen Mensch, Natur und Universum auf und deutet an, dass alles miteinander verbunden ist.
Die Schwertlilie, auch Iris genannt, ist eine Blume voller Symbolik. In der griechischen Mythologie steht sie mit der Göttin Iris in Verbindung, die als Götterbotin den Himmel und die Erde verband. Ihre schwertförmigen Blätter erinnern zudem an das Motiv der Durchdringung oder des Einschnitts, was in der christlichen Tradition mit Schmerz, aber auch mit Erkenntnis verknüpft ist. Doch das Gedicht geht noch weiter: Die Wurzeln der Lilie sind nicht in der Erde verankert, sondern saugen sich in einen Stern. Hier wird eine ungewöhnliche Verbindung hergestellt – eine Pflanze, die ihre Kraft nicht aus dem Boden, sondern aus dem Kosmos zieht.
Die Idee, dass Pflanzen und Himmelskörper eng miteinander verwoben sind, findet sich in verschiedenen Mythen. In der ägyptischen Mythologie war der Isched-Baum ein heiliger Baum, auf dessen Blättern die Namen der Könige standen, wodurch er das Irdische mit dem Göttlichen verband. Auch in der nordischen Mythologie gibt es eine solche Verbindung: Yggdrasil, die Weltenesche, hält die verschiedenen Ebenen des Universums zusammen. Das Gedicht greift diese Vorstellungen auf und erschafft ein Bild, in dem das lyrische Ich in einer kosmischen Vergangenheit als riesige blaue Blüte auf einem Stern geschwommen ist.
Die Farbe Blau steht oft für das Transzendente und das Unendliche. Die „blaue Riesenblüte“ kann als überwältigende, leuchtende Erscheinung gedeutet werden – möglicherweise als Symbol für eine Supernova oder eine andere gewaltige kosmische Veränderung. So entsteht der Eindruck, dass das lyrische Ich nicht nur Teil eines pflanzlichen Kreislaufs war, sondern sogar mit der Geburt und dem Vergehen von Sternen in Verbindung steht.
Es gilt, über die Grenzen der eigenen Existenz hinauszudenken. Arno Holz hebt das Individuum aus der linearen Zeit heraus und stellt es in einen größeren, fast mythischen Zusammenhang. Die Vorstellung, dass das Leben nicht erst mit der Geburt beginnt, sondern eine lange kosmische Vorgeschichte hat, macht dieses Gedicht so faszinierend – es erinnert uns daran, dass wir nicht nur aus Sternenstaub bestehen, sondern dass unser Dasein vielleicht viel weiter reicht, als wir es uns vorstellen können.
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