Schreiben jenseits der Erinnerung
I. Das Problem mit dem Erinnern
Wenn Frank Witzel vom Erinnern als „diffuser und unzureichender Prämisse für das Schreiben“ spricht, meint er zunächst das aktive, willentliche Erinnern: Ich setze mich hin, rufe meine Vergangenheit ab, konstruiere aus Fragmenten eine Geschichte. Dieses autobiografische Schreiben ist Arbeit am Material der Erinnerung – Auswahl, Ordnung, Sinnstiftung. Das Erzähler-Ich wählt aus, betont, unterdrückt. Es macht aus dem gelebten Leben eine erzählte Geschichte.
Aber was, wenn die tiefste Wahrheit über ein Leben gerade dort liegt, wo das bewusste Erinnern nicht hinreicht? Wo das, was uns prägt, sich dem narrativen Zugriff entzieht, weil es zu diffus ist, zu widersprüchlich, zu sehr Atmosphäre statt Ereignis?
Hier zeigt sich ein Paradox: Gerade der Verzicht auf aktives Erinnern könnte einen anderen, tieferen Zugang zum eigenen Leben eröffnen. Nicht durch das Erzählen von Geschichten, sondern durch das Hinterlassen von Spuren.
II. Der Umweg über die andere Kunst
„Es waren die anderen Künste, die mich zu schreiben lehrten“, notierte Stendhal. Dieser Satz beschreibt mehr als eine Lernbewegung – er weist auf einen fundamentalen Mechanismus hin: Die fremde Kunstform, das ungewohnte Medium schafft einen Umweg um das bewusste, kontrollierende Ich.
Wer zum ersten Mal mit Acrylfarben arbeitet, kann nicht auf Routine zurückgreifen. Die Hand muss neu lernen, der Blick muss sich anders fokussieren. Es gibt keine bewährten Muster, keine Erzählstrategien, die greifen würden. Man ist im reinen Moment der Auseinandersetzung mit Material, Farbe, Bewegung. Man lässt sich treiben.
Und genau in diesem Treiben, in diesem meditativen Zustand des Noch-nicht-Könnens, taucht etwas auf: Formen, die man nicht geplant hat. Farbkombinationen, die aus einem selbst kommen, ohne dass man wüsste, warum. Brüche, Wiederholungen, Rhythmen. Das Unbewusste nutzt den Flow, um sich einzuschreiben.
Später, wenn man das entstandene Bild betrachtet, erkennt man: Hier ist etwas sichtbar geworden. Nicht als Geschichte mit Anfang und Ende, sondern als Konstellation. Dunkle Stellen, die man nicht wollte, aber nicht übermalen konnte. Helle Durchbrüche, die überraschen. Strukturen, die sich wiederholen, ohne dass man es bemerkt hätte.
Das Bild erzählt keine Autobiografie – es ist eine. Eine, die sich dem bewussten Erzählen entzogen hat.
III. Emergente Erinnerung
Man könnte unterscheiden zwischen zwei Formen des Erinnerns:
Aktives Erinnern: Ich rufe Vergangenes ab, ordne es, erzähle es. Das Ich ist Herr des Verfahrens. Es wählt aus, was passt, unterdrückt, was stört.
Emergentes Erinnern: Im Moment des Tuns – des Malens, Schreibens, Tanzens – taucht etwas auf, das unbewusst da war. Nicht, weil ich es gesucht habe, sondern weil die Gegenwart, die Konzentration auf das Material, das fremde Medium es freisetzt.
Witzels Sehnsucht nach einem „erinnerungslosen Schreiben“ richtet sich gegen das erste. Aber sie öffnet den Raum für das zweite. Denn wenn man aufhört, aktiv zu erinnern, und sich stattdessen einem gegenwärtigen Prozess hingibt, kommt das Vergangene von selbst – aber anders. Nicht als Anekdote, sondern als Form. Nicht als erklärbares Ereignis, sondern als Stimmung, Farbe, Geste.
Das Entscheidende ist: Diese Form von Erinnerung ist ungefiltert. Sie zeigt auch das Unverarbeitete, das Widersprüchliche, das, was nicht in die Selbsterzählung passt. Sie ist näher an dem, was tatsächlich ist, weil sie nicht durch das diskursive Ich hindurch muss.
IV. Ein Experiment: Die unbewusste Autobiografie
Wie ließe sich dieser Gedanke in ein literarisches Experiment übersetzen?
Phase 1: Das fremde Medium
Autorinnen wählen eine Kunstform, die sie nicht beherrschen. Schriftstellerinnen malen, collagieren, komponieren. Musikerinnen schreiben. Tänzerinnen zeichnen. Die einzige Regel: Sich treiben lassen. Nicht planen, nicht korrigieren. Den Zustand der Ungewissheit aushalten, das Noch-nicht-Können als Chance begreifen.
Das Werk entsteht im Flow, in einem Zustand, der dem nahekommt, was Witzel meint: Schreiben (oder Malen, Tanzen) als reiner Moment, ohne Rückgriff auf Erinnerung, ohne Vorausschau auf ein Ziel.
Phase 2: Die Betrachtung
Tage oder Wochen später schauen die Autor*innen auf das entstandene Werk. Jetzt darf die Reflexion einsetzen – aber nicht als Interpretation, sondern als Entdeckung: Was sehe ich hier? Welche Bilder tauchen auf? Welche Atmosphären? Welche Symbole, die ich nicht bewusst gesetzt habe?
In dieser Phase entsteht ein Text – aber er ist nachgelagert. Er versucht nicht, eine Geschichte zu erzählen, sondern zu benennen, was sich gezeigt hat. Er ist Zeugnis eines Erkennens, nicht eines Erfindens.
Phase 3: Die Publikation
Das Magazin zeigt beides: Das Werk (das Bild, die Collage, die Partitur) und den Text, der aus der Betrachtung entstand. Zusammen ergeben sie eine Autobiografie in Schichten:
- Die unbewusste Spur (das Werk)
- Die nachträgliche Erkenntnis (der Text)
- Die Leerstelle dazwischen (das, was sich zeigt, aber nicht benannt werden kann)
V. Was dabei entsteht
Das Resultat wäre keine Autobiografie im konventionellen Sinn. Keine Chronologie von Geburt bis Gegenwart, keine Wendepunkte, keine erklärenden Kausalitäten. Stattdessen: eine emotionale Topografie.
Wo sind die dunklen Stellen? Wo die hellen? Wo bricht etwas auf, wo verdichtet sich etwas? Welche Muster wiederholen sich, ohne dass das bewusste Ich sie kontrollieren könnte? Welche Prägungen zeigen sich in der Farbwahl, im Rhythmus, in der Art, wie eine Hand über eine Fläche fährt?
Diese Form der Autobiografie ist radikal ehrlich, weil sie nicht durch das Filter der Selbsterzählung gegangen ist. Sie zeigt nicht, wie jemand sein Leben versteht, sondern wie es in ihm wirkt. Sie dokumentiert nicht Ereignisse, sondern Zustände. Nicht das, was geschah, sondern das, was blieb.
VI. Die Übertragung auf das Schreiben
Aber lässt sich dieser Ansatz auch auf das Schreiben selbst anwenden – auf die Kunstform, die Witzels eigene ist?
Ja – wenn man das Schreiben durch Fremdes irritiert. Wenn man nicht aus sich selbst heraus schreibt, sondern im Moment der Begegnung mit etwas anderem: einem Musikstück, einem Bild, einer Bewegung, einem Geräusch.
Das Schreiben nach Musik etwa, ohne Pause, ohne Korrektur, ist ein solcher Vorgang. Die Musik gibt einen Rhythmus vor, eine Stimmung, einen Affekt – aber keine Bedeutung. Das Schreiben muss diesem Fluss folgen, kann nicht auf narrative Muster zurückgreifen. Es wird responsiv, nicht konstruktiv.
Und auch hier gilt: Was dabei entsteht, ist nicht bewusst gesteuert. Später, beim Lesen, erkennt man Muster. Obsessionen, die man nicht kannte. Sätze, die eine Prägung zeigen, ohne sie zu benennen. Eine Syntax, die von Angst oder Sehnsucht durchzogen ist, ohne dass das Wort „Angst“ oder „Sehnsucht“ fiele.
Das Schreiben wird zur Spur – und die Spur ist autobiografisch, ohne dass eine Geschichte erzählt würde.
VII. Das aktive Lesen als Variante
Dieser Ansatz lässt sich auch umkehren: vom Schreiben zum Lesen. Nicht die Autorinnen, sondern die Leserinnen werden aktiv.
Man liest einen Text – Lyrik, Prosa, ein Essay – und reagiert darauf im Moment, ohne zu überlegen, ohne zu interpretieren. Man malt, collagiert, schreibt assoziativ weiter, bewegt sich. Die Reaktion ist unmittelbar, getrieben vom Text, aber nicht kontrolliert durch das verstehende Ich.
Was dabei entsteht, ist eine Resonanz-Autobiografie: Der Text triggert etwas im Lesenden, das sich dann im eigenen Tun zeigt. Das Gelesene wird zum Katalysator für etwas, das schon da war, aber keine Worte hatte. Die eigene Prägung tritt hervor – nicht als bewusste Erinnerung, sondern als spontane Form.
Auch hier: Später betrachtet man das Entstandene und erkennt, was der Text in einem freigesetzt hat. Die Autobiografie liegt nicht im Text, sondern in der Begegnung mit ihm.
VIII. Warum das wichtiger sein könnte als Erzählen
Narrativ konstruierte Autobiografien haben eine Schwäche: Sie sind immer schon Selbstdeutung. Das erinnernde Ich ordnet sein Leben so, dass es Sinn ergibt. Es erschafft Kohärenz, wo vielleicht keine war. Es glättet, was widersprüchlich ist, und betont, was zur eigenen Identität passt.
Die Spur-Autobiografie verweigert diese Glättung. Sie zeigt, ohne zu erklären. Sie dokumentiert das Unaufgelöste. Sie macht sichtbar, dass ein Leben keine Geschichte ist, sondern ein Geflecht aus Prägungen, Brüchen, Wiederholungen – vieles davon unbewusst, vieles ohne kausalen Zusammenhang.
Das ist näher an der Wahrheit. Nicht an der Wahrheit dessen, was geschah, sondern an der Wahrheit dessen, wie es wirkt. Wie es sich anfühlt, dieses Leben zu leben, aus diesem Körper heraus, mit diesen Prägungen, in dieser Konstellation von Hell und Dunkel.
IX. Das Paradox auflösen
Witzel sehnt sich nach einem Schreiben ohne Erinnerung. Aber vielleicht ist die Lösung nicht, die Erinnerung zu verbannen, sondern sie anders geschehen zu lassen. Nicht als bewussten Akt, sondern als emergentes Phänomen.
Stendhal zeigt den Weg: Die andere Kunst, das fremde Medium schaffen die Bedingungen, unter denen das Unbewusste sich zeigen kann. Man erinnert sich nicht – aber das Leben hinterlässt trotzdem seine Spur.
So entsteht eine Autobiografie, die keine ist. Eine, die ehrlicher ist als jede Erzählung. Eine, die zeigt, ohne zu deuten. Eine, die dem Moment treu bleibt – und dennoch die Vergangenheit trägt.
Das wäre ein Schreiben (oder Malen, Tanzen, Collagieren), das sowohl Witzels Sehnsucht erfüllt als auch Stendhals Einsicht folgt: Im reinen Präsens bleiben – und gerade dadurch sichtbar machen, was war.
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