In der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur gibt es Autoren, die nicht nur durch ihre Texte, sondern durch ihre gesamte künstlerische Präsenz beeindrucken. Michael Fehr ist einer von ihnen. Der 1982 in Bern geborene Schweizer Autor hat sich als Erzähler, Performer und Kulturvermittler einen Namen gemacht – und das auf eine ganz besondere Art und Weise.
Ein Autor zwischen den Genres
Michael Fehr ist Schriftsteller und Darsteller: Weil er sehbehindert ist, lässt er sich seine eigenen Texte von einem Abspielgerät ins Ohr sprechen, um sie dann laut vorzutragen. Mit Gitarre, Trommel und seiner Stimme haucht er seinen bildstarken Geschichten Leben ein und unterstreicht deren Musikalität. Diese performative Herangehensweise macht seine Lesungen zu einzigartigen Erlebnissen, bei denen Text und Klang eine untrennbare Einheit bilden.
Nach seinem Studium am Schweizerischen Literaturinstitut Biel und am Y Institut der Hochschule der Künste Bern hat sich Fehr nicht nur als Autor etabliert, sondern auch als Schweizer Projektleiter für „Babelsprech“ zur Förderung junger deutschsprachiger Dichtung engagiert. Seine literarische Arbeit wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kelag-Preis am Ingeborg-Bachmann-Preis und 2018 mit einem Schweizer Literaturpreis.
„Simeliberg“ – Eine Schweiz ohne Klischees
2015 erschien mit „Simeliberg“ Fehrs zweites Buch nach „Kurz vor der Erlösung“ (2013). Bereits der Titel weckt Assoziationen: Er erinnert sowohl an das gleichnamige Grimmsche Märchen als auch an das melancholische Volkslied „Vreneli ab em Guggisberg“. Diese Bezüge schaffen eine Verbindung zur schweizerischen Kultur und Folklore, verleihen dem Werk aber auch eine märchenhafte und zugleich melancholische Grundstimmung.
Doch was Fehr hier präsentiert, ist alles andere als eine romantische Verklärung der Schweiz. „Simeliberg“ ist ein abgelegener Ort, an dem der Autor die dunkel verschatteten Herzen der Schweizer ausleuchtet. Es ist zum einen ein Krimi, zum anderen ein düsteres Sittenbild der gar nicht heilen Schweiz – eine Schweiz ohne Klischees.
Zwischen den Fronten
Im Zentrum der Erzählung steht ein rätselhafter Kriminalfall, der verschiedene Figuren in seinen Bann zieht. Da sind die Menschen Weiss und Wyss droben, der Bauer Schwarz drunten, und dazwischen der Grenzgänger Griese, der je länger, desto stärker zwischen alle Fronten und in die Mühlen der Behörden gerät. Der Gemeindsverwalter Anatol Griese stolpert nicht nur unversehens in diesen Kriminalfall hinein – er wird zu einer Figur, die exemplarisch für die existenzielle Verwirrung und Vereinsamung steht, die Fehr in seinem Werk thematisiert.
Eine karge, aber liebevolle Sprache
Was „Simeliberg“ besonders auszeichnet, ist Fehrs einzigartige Erzähltechnik. Er erzählt in einer so kargen wie liebevollen Sprache, die ohne Punkt und Komma auskommt und dadurch einen fließenden, fast hypnotischen Rhythmus entwickelt. „Der schwarze Matsch unten im Krachen, das weissliche Licht der Behörden, die roten Fantasien vom Mars“ – solche Textpassagen zeigen, wie Fehr mit Farbsymbolik und suggestiven Bildern arbeitet, um eine Atmosphäre von existenzieller Wucht zu schaffen.
Literatur als Gesamtkunstwerk
„Simeliberg“ ist nicht nur Roman – es ist ein vielschichtiges Werk, das durch seine besondere Erzähltechnik, seine poetische Sprache und seine kritische Auseinandersetzung mit der schweizerischen Gesellschaft besticht. Michael Fehr bricht traditionelle Erzählformen auf und beschreitet durch seine performative Herangehensweise neue Wege der Literaturvermittlung.
In einer Zeit, in der Literatur oft in Kategorien gepresst wird, steht Michael Fehr für eine Kunst, die sich dem widersetzt – zwischen Schrift und Klang, zwischen Krimi und Gesellschaftskritik, zwischen Märchen und Realismus. „Simeliberg“ ist ein Buch, das man nicht nur lesen, sondern erleben sollte – am besten in einer von Fehrs eindringlichen Performances, wo Text und Musik zu einer unverwechselbaren literarischen Erfahrung verschmelzen.
Brüder Grimm – Simeliberg
Bibliografische Angaben
Michael Fehr: Simeliberg
Verlag: Der gesunde Menschenversand
Erscheinungsjahr: 2015
Genre: Roman/Krimi
Weitere Werke von Michael Fehr:
Kurz vor der Erlösung (2013)
Glanz und Schatten (für das er 2018 den Schweizer Literaturpreis erhielt)
Auszeichnungen:
Kelag-Preis am Ingeborg-Bachmann-Preis für „Simeliberg“
Schweizer Literaturpreis 2018 für „Glanz und Schatten“
Titelbild: Piero Di Maria
-
Rolf Borzik
Bei der Rechcherche zum Fotografen des Umschlagbildes von Tagtexte habe ich dieses Zitat von ihm auf der Seite von Pina Bausch Foundation gefunden: „Ich glaube, man muß sehr bescheiden sein in der Wahl eines Stoffes, weil man sich zu einem intimen Freund bekennt, der sich nicht wehren kann. Diese Konfrontation hat die besten Chancen, wenn…
-
Ein rotes Kreuz, das sein Schicksal besiegelt.
Sasha Filipenko | Rote Kreuze. Ein Roman Sachbücher mag ich eher selten. Lieber ist es mir, Wissen aus fundiert recherchierten Romanen zu sammeln. Da geschieht meist eher unbewusst, leicht und nachhaltiger, weil ich für dieses dann eine Verknüpfung habe. Wie viel man für sich mitnehmen kann, hängt vom Lesestoff ab. Das Buch, welches ich hier…
-
Serhij Zhadan | Anarchy in the UKR
»Vergiss die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigere deine Stimme[…]« So beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus Serhij Zhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols, Anarchy in the UKR, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden…
-
Das Espressoskop
Viele Jahre habe ich Fotos von Espressoschaum gemacht und gesammelt. Irgendwann ist es dann in Vergessenheit geraten; ich trinke inzwischen hauptsächlich Tee. Beim Lesen des Gedichts Espresso von Sarah Kirsch, kam die Erinnerung wieder; es geht dort u.a. um den Verlust von Orientierung am Alltag, im vermeintlich Vertrauten (Meine Lesart) – und das brachte mich…
-
Otto F. Walter – Wie wird Beton zu Gras
Otto F. Walters Roman Wie wird Beton zu Gras? (erstmals 1979 erschienen, hier in der Rororo-Taschenbuchausgabe von 1988 vorliegend) wird zur ökologischen Literaturbewegung der späten 1970er Jahre gezählt. Im Zentrum steht der Stadtplaner Viktor B., ein zerrissener Antiheld, der täglich an der Transformation natürlicher Landschaften in betonierte Stadt- und Industrieflächen mitwirkt. Sein Beruf steht im fundamentalen Konflikt mit seinem wachsenden…
-
Das Päckchen – Franz Hohler
Franz Hohler, der Schweizer Meister der leisen Töne, entführt uns in seinem 2017 erschienenen Roman Das Päckchen (Luchterhand Literaturverlag) auf eine Reise durch Zeit und Verantwortung. Die Geschichte ist mehr als nur eine spannende Quest (So bezeichnet von der hiesigen Bibliothekarin im Schulzentrum) – es ist eine Parabel über kulturelles Erbe, historische Schuld und die unerwartete Macht kleiner…
-
Besuch aus der Vergangenheit – Renate Welsh
Renate Welsh’s Roman „Besuch aus der Vergangenheit“ (2002) setzt sich mit den langen Schatten der Vergangenheit und den Auswirkungen von Krieg und Verfolgung auf das Leben nachfolgender Generationen auseinander. Das Buch ist ein gutes Beispiel für ihre Fähigkeit, historische Themen mit persönlichen Schicksalen zu verweben und dabei universelle Fragen von Schuld, Erinnerung und Identität zu stellen. Die…
-
Espresso – Sarah Kirsch
Sarah Kirschs Gedicht Espresso entfaltet in knapper, verdichteter Sprache ein Szenario der Rückkehr und des Erstaunens: Das lyrische Ich kommt nach längerer Abwesenheit an einen vertrauten Ort zurück – möglicherweise ein Zuhause – und stellt mit wachsender Irritation fest, dass scheinbar nichts vorbereitet ist. Alltägliche Dinge wie Zucker und Milch fehlen, was zunächst wie eine…
-
Waldinmitten – Mit der Kamera auf Loerkes Waldspuren
Fotografische Skizzen: Hier folgen meine Fotografien, die ich mit Oskar Loerkes Gedicht „Im Silberdistelwald“ verbinde. (Die Galerie passe ich fortlaufend an.)
-
Wald: Schutzraum und Ort der Vergänglichkeit
Einen besonderen Blick habe ich auf die ambivalente Darstellung des Waldes bei Oskar Loerke geworfen: – zugleich Schutzraum und Ort der Vergänglichkeit. Er scheint mir die poetische Mehrdeutigkeit des Textes zu unterstreichen. Zudem möchte ich eine Einladung aussprechen – auch an mich selbst, daher das du – aufmerksam(er) durch die Wälder zu streifen (siehe: Beobachtungsideen…
-
Augenhöhe gesucht
Ich halte mich für einen durchaus gefühlvollen Menschen; es würde mir allerdings niemals in den Sinn kommen, mich derart zu äußern. Allerdings: wie würde ich es denn, basierend auf diesem Gedicht von Eduard Assadow? Wenn man das Gedicht aus einer nüchternen, weniger überwältigten Perspektive betrachtet, könnte die Darstellung der Gefühle anders aussehen – sachlicher, reflektierter,…
-
Angeregte Dialoge
Literatur ist für mich weit mehr als reine Information und Unterhaltung – sie ist ein Quell der Inspiration und Anlass für lebendige Gespräche, sowohl innere als auch äußere. Anstatt uns in der stillen Rezeption zu verlieren, können wir die Kraft der Texte nutzen, um unser eigenes Denken anzustoßen und neue Perspektiven zu gewinnen.In dieser Rubrik…
Schreibe einen Kommentar