Blog

  • Grafische Literatur – Graphic Novel

    Grafische Literatur – Graphic Novel

    Ein Roman, dessen Handlung durch sequentielle Bildfolgen dargestellt wird, wird oft als „Graphic Novel“ oder „Bilderroman“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Erzählform, die sich zwischen Literatur und Kunst bewegt. Einige Beispiele:

    Thema: Holocaust, Trauma, Erinnerung
    Inhalt:

    • Art Spiegelman erzählt die Geschichte seines Vaters Wladek Spiegelman, der den Holocaust überlebte.
    • Die Figuren sind als Tiere dargestellt (Juden = Mäuse, Deutsche = Katzen, Polen = Schweine).
    • Die Bildsprache verstärkt die emotionale Wucht der Erzählung, indem sie Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkt.
    • „Maus“ war die erste Graphic Novel, die einen Pulitzer-Preis gewann.

    Thema: Islamische Revolution im Iran, Identität, Exil
    Inhalt:

    • Marjane Satrapi schildert ihre Kindheit und Jugend während und nach der Islamischen Revolution.
    • Die Bilder sind schwarz-weiß und stilisiert, um die Kontraste zwischen Freiheit und Unterdrückung zu verdeutlichen.
    • Die autobiografische Erzählweise macht die politischen Umstände persönlich erfahrbar.

    Thema: Mythologie, Träume, Philosophie
    Inhalt:

    • Die Geschichte dreht sich um „Dream“, den Herrscher über das Traumreich, der nach langer Gefangenschaft in eine sich verändernde Welt zurückkehrt.
    • Visuell und narrativ sehr experimentell, nutzt Gaiman oft verschiedene Zeichenstile und Erzähltechniken.
    • Verknüpft klassische Literatur, Mythologie und Horror mit modernen Comics.

    Thema: Einsamkeit, Familie, Kindheitstrauma
    Inhalt:

    • Die Graphic Novel erzählt die Geschichte von Jimmy Corrigan, einem sozial unbeholfenen, schüchternen Mann, der nach Jahrzehnten Funkstille seinen entfremdeten Vater trifft.
    • Die Geschichte wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen – Jimmys trostlosem Erwachsenenleben in der Gegenwart und Rückblenden in seine Kindheit sowie die Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg.
    • Ware zeichnet ein extrem nüchternes, oft bedrückendes Bild über Einsamkeit, soziale Isolation und die Unfähigkeit zur emotionalen Kommunikation.

    Was macht das Buch besonders?

    • Visuelle Erzählweise: Ware nutzt ungewöhnliche Seitenlayouts, Diagramme, winzige Panels und eine kühle, minimalistische Farbpalette, um Emotionen und Zeitabläufe darzustellen.
    • Kein klassischer Spannungsbogen: Die Geschichte folgt keiner typischen Heldenreise, sondern ist eine introspektive Charakterstudie mit tiefgründigen Beobachtungen des Alltags.
    • Architektonische Gestaltung: Ware ist stark von Architektur beeinflusst – seine Seiten erinnern oft an technische Zeichnungen oder Stadtpläne.

    Auszeichnungen:

    • „Jimmy Corrigan“ gewann 2001 den Guardian First Book Award – als erste Graphic Novel überhaupt.
    • Außerdem erhielt das Buch mehrere Eisner Awards, den wichtigsten Preis für Comics und Graphic Novels.

    Chris Ware hat auch andere beeindruckende Werke wie „Building Stories“ (2012) geschaffen, das als eine Art literarisches Baukastensystem funktioniert – mit einzelnen Heften, Zeitungsseiten und Postern, die in einer Box geliefert werden und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können.


    Thema: Antike, Macht, Verrat
    Inhalt:

    • Inspiriert von „Satyricon“ von Petronius, erzählt diese Graphic Novel von einem römischen Exilanten.
    • Die Bildsprache ist düster und expressiv, was zur brutalen, poetischen Handlung passt.

    Schuiten arbeitet an der Grenze zwischen Graphic Novel, Architekturzeichnung und Science-Fiction. Seine Werke sind keine typischen Comics mit schnellen Dialogen und Action, sondern eher grafische Romane, in denen die Bilder oft mehr erzählen als der Text.

    Thema: Alternative Welten, Architektur, Utopien/Dystopien
    Inhalt:

    • Die Reihe spielt in einer parallelen Welt, in der es riesige, teils groteske Städte gibt, inspiriert von Jugendstil, Bauhaus und utopischer Architektur.
    • Es gibt keine klassische Heldenreise – stattdessen stehen Stadtlandschaften, Strukturen und Gesellschaften im Mittelpunkt.
    • Die Erzählweise ist oft fragmentarisch, mit Einflüssen aus Jules Verne, Kafka und den großen Visionären der Architektur (z. B. Étienne-Louis Boullée).
    • Die Bilder sind extrem detailliert, oft in sepiafarbenen Tönen oder mit feinen Schraffuren.

    Was macht Schuiten besonders?

    • Er erschafft starke visuelle Erzählwelten, die oft mehr durch Architektur als durch Handlung wirken.
    • Die Städte wirken wie lebendige Organismen mit eigenen Geschichten.
    • Seine Werke haben eine fast literarische Qualität – oft mit philosophischen oder gesellschaftskritischen Untertönen.

    Thema: Entführung, Filmgeschichte, Nordkorea
    Inhalt:

    • Basierend auf der wahren Geschichte der südkoreanischen Schauspielerin Choi Eun-Hee und ihres Ex-Mannes, des Regisseurs Shin Sang-ok, die 1978 von nordkoreanischen Agenten entführt wurden.
    • Unter der Aufsicht von Kim Jong-il wurden sie gezwungen, Filme für das nordkoreanische Regime zu produzieren, darunter „Pulgasari“, eine Art nordkoreanischer Godzilla-Film.
    • Die Graphic Novel fängt ihre dramatische Geschichte mit lebhaften Illustrationen ein und beleuchtet sowohl ihr persönliches Schicksal als auch die Filmproduktion unter Zwang.
    • Nach mehreren Jahren gelang ihnen 1986 während eines Festivals in Wien die Flucht in die Freiheit.
    • Bereits in Deutschland preisgekrönt, bietet das Buch einen fesselnden Einblick in ein kaum bekanntes Kapitel der Filmgeschichte. The Guardian

    Thema: Politischer Aktivismus, 1960er Jahre, persönliche Entwicklung
    Inhalt:

    • Erzählt die Geschichte von Elise, die während ihrer Schulzeit eine politische Bewusstwerdung erlebt und sich in den 1960er Jahren den neuen Partisanen anschließt.
    • Die Handlung ist inspiriert von der frühen Aktivismuszeit von Dominique Grange, der Partnerin des Autors.
    • Die schwarz-weißen Illustrationen zeigen das Paris der damaligen Zeit und verbinden persönliche Erlebnisse mit historischen Ereignissen wie den Mai-Unruhen 1968.
    • Die Graphic Novel bietet einen Einblick in die politische und persönliche Entwicklung einer jungen Frau in einer turbulenten Epoche. newyorker.com

    Thema: Stadterkundung, Studentenproteste, persönliche Identität
    Inhalt:

    • Die Hauptfigur erkundet die Straßen von Buenos Aires, erlebt Studentenproteste, Hausbesetzungen und Polizeigewalt.
    • Mit einem dünnen Strich, der an Kugelschreiber-Zeichnungen erinnert, schafft der argentinische Zeichner Sike ungewöhnliche Bilder, die die persönliche Sicht der Protagonistin widerspiegeln.
    • Stadtpläne verwandeln sich in Menschen oder andere Objekte und dienen als Allegorie für den Seelenzustand der Hauptfigur.
    • Eine philosophische und zugleich alltagsnahe Erzählung über das Leben in einer pulsierenden Metropole. ndr.de

    Thema: Western-Parodie, schwarzer Humor, Tod
    Inhalt:

    • Erzählt die skurrile Geschichte des Revolverhelden Murr, der einen Deal mit dem Tod eingeht.
    • Mit schwarzem Humor und einer unkonventionellen Erzählweise wird die Western-Thematik auf den Kopf gestellt.
    • Die Graphic Novel wurde 2022 mit dem ICOM Independent Comic Preis in der Kategorie „Bester Independent Comic“ ausgezeichnet.
    • Eine erfrischende Parodie auf das Western-Genre mit tiefgründigen Untertönen. Designer in Action

    Thema: Kunst, weibliche Darstellung, Museumswelt
    Inhalt:

    • Im Louvre verschwinden plötzlich alle weiblichen Aktmodelle aus Gemälden und Skulpturen kurz vor der Ernennung eines neuen Direktors.
    • Eine kleine Gruppe versucht, die Modelle zurückzubringen, um einen Skandal zu vermeiden.
    • Die Geschichte wird aus der Perspektive der dargestellten Frauen erzählt, die sich nur begafft und gedemütigt fühlen.
    • Mit cartoonesken Zeichnungen in Schwarz und Rot bietet die Graphic Novel eine unterhaltsame und nachdenkliche Verwechslungskomödie.

    Graphic Novels sind oft tiefgründiger und erwachsener als herkömmliche Comics. Sie können:

    • literarische oder philosophische Themen aufgreifen,
    • eine komplexe Bildsprache verwenden,
    • einen zusammenhängenden Erzählbogen haben (im Gegensatz zu episodischen Comics).
  • Simon, O., Das Schärfen des Disteldorns. Bleckede, 2023

    Simon, O., Das Schärfen des Disteldorns. Bleckede, 2023

    Kein einführender Text, dafür ein Kunstwort (?), das einen Vorgeschmack auf den Inhalt bietet: Bibliografischer Zeilenwurf Klingt vernünftig und ein wenig verspielt. Man hat ein vages Bild und ist doch erfunden.

    Beim Versuch meinen LektüreNotizen einen titel zu geben, orientiere ich mich an Rademachers Verzeichnisform. Das Frage ist nun: Was schlummert da, was darin Ausdruck finden will? Ich habe eine Ahnung. -> distelicht (folgt)

  • Nach der Flucht | Gespräche mit Aydin Yarash

    Nach der Flucht | Gespräche mit Aydin Yarash

    Aydin Yarash, geb. 1987, stammt aus Norden Afghanistans. Sie ist gelernte Schneiderin und wohnte in einer Asylunterkunft. Ihr Wunsch ist es, als Dolmetscherin zu arbeiten. Ich lernte sie – auf Umwegen – über ein Sprachpatenprogramm eines Sozialverbandes kennen. Im Frühjahr 2017 zog sie nach Bristol, Großbritannien. Der besseren Jobaussichten wegen. Wir hielten losen Kontakt. 2018 sendete sie mir ein Gedicht von ihr. Ich hatte Fragen und daraus entstand ein reger Mailverkehr. Hier einige der Fragen, die sich im großen und ganzen auf das Gedicht beziehen.

    Warum hast Du eigentlich das Gedicht geschrieben? Gab es einen konkreten Anlass?

    Das Gedicht war eine Reaktion auf die ständige Angst und den Schmerz, den ich im Krieg und durch die Flucht erlebt habe. Es war der Versuch, all das, was in mir war, irgendwie in Worte zu fassen. Ich wollte, dass die Welt versteht, was passiert, dass Menschen wirklich hören, wie sich dieser Schmerz anfühlt.

    Es gab keinen konkreten Anlass – es war eher ein Moment des Überlaufs. Wenn die Erlebnisse so tief und überwältigend sind, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als sie zu Papier zu bringen. Ich wollte die Wut und die Trauer ausdrücken, die mich ständig begleiteten, und gleichzeitig die Sehnsucht nach Frieden, nach einem Ende der Zerstörung.

    Du hast diese Zeilen 2018 geschrieben. Du warst also bereits Bristol. Der Krieg in Afghanistan ging bis 2021. Hast Du den Verlauf weiter verfolgt? Hast Du Kontakt zu Verwandten und Freunden in Deiner Heimat versucht zu halten? War das überhaupt möglich?

    Ja, ich habe den Krieg weiter verfolgt. Auch wenn ich nicht mehr dort war, blieb er ein Teil meines Lebens. Ich habe Nachrichten gelesen, mit anderen Geflüchteten gesprochen und gehofft, dass es irgendwann besser wird.

    Meine Familie und meine Freunde waren noch dort. Ich habe versucht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben, aber es war nicht immer einfach. Manchmal funktionierte das Telefon nicht, manchmal hatten sie Angst, offen zu sprechen. Ich habe oft lange auf eine Nachricht gewartet – und manchmal kam keine mehr.

    Es war schwer, hier in Sicherheit zu sein, während sie dort weiterlebten, mit all den Ängsten und Verlusten. Ich konnte nur hoffen, dass sie es irgendwie schaffen.

    Du schreibst, dass Du Deine Hände im Krieg verloren hast. Ich habe Deine Hände bereits lebendig gesehen. Was möchtest Du mit dieser Metapher ausdrücken?

    Als ich schrieb, dass ich meine Hände im Krieg verloren habe, meinte ich nicht buchstäblich meine Hände, sondern das, was sie tun konnten.

    Meine Hände haben früher genäht, Kleider geschaffen, etwas aufgebaut. Der Krieg hat mir diese Möglichkeit genommen. Er hat meine Arbeit zerstört, mein Zuhause, meine Sicherheit. Ich konnte nicht mehr das tun, was meine Hände früher getan haben. In diesem Sinne habe ich sie verloren.

    Vielleicht bedeutet es auch, dass der Krieg mir meine Selbstständigkeit genommen hat. Ohne Heimat, ohne Sicherheit fühlte ich mich machtlos – als hätte ich keine Hände mehr, um mein Leben zu gestalten.

    Ist der Verlust Deines Kindes auch eine Metapher?

    Nein. Wenn ich schreibe: „Ich weine, weil mein Kind im Krieg gefallen ist“, dann ist das kein Bild, sondern eine Wahrheit, die viele Mütter in meiner Heimat erleben mussten – vielleicht auch ich.

    Aber auch wenn es nicht mein eigenes Kind war, habe ich so viele Kinder sterben sehen. Jedes Kind, das durch den Krieg stirbt, fühlt sich an, als wäre es das eigene. Der Schmerz ist nicht nur individuell – er gehört uns allen.

    Vielleicht steckt in diesen Worten beides: persönlicher Verlust und der Schmerz aller Mütter, die den Krieg erleben.

    Hat diese Erfahrung Einfluss darauf, ob du eine eigene Familie gründen möchtest? Soweit ich weiß, hast Du bisher keine leiblichen Kinder.

    Ja, das hat einen großen Einfluss. Ich habe keine leiblichen Kinder, aber ich habe viele Kinder gesehen, die leiden mussten.

    Manchmal frage ich mich: Kann ich einem Kind eine sichere Zukunft geben? Kann ich es vor dem schützen, was ich erlebt habe? Ich möchte eine Familie, aber ich habe auch Angst. Angst davor, dass die Welt, in die ich ein Kind bringe, nicht sicher ge nug ist.

    Aber dann sehe ich Kinder, die trotz allem lachen, die weitermachen. Vielleicht ist genau das der Grund, eine Familie zu gründen – um dem Leben zu zeigen, dass es weitergeht, trotz allem. Nun bin ich allerdings nicht mehr jung. Also, wer weiß…

    Du lebst inzwischen schon eine Weile in Großbritannien. Hast Du – bildhaft gesprochen – Deine Hände wieder? Wenn ja, was machst Du mit ihnen?

    Ja, ich habe meine Hände wieder – nicht, weil der Krieg sie mir zurückgegeben hat, sondern weil ich sie hier neu finden konnte.

    Hier musste ich lernen, meine Hände anders zu nutzen. Ich kann wieder arbeiten, wieder gestalten. Vielleicht nicht mehr als Schneiderin, aber als Dolmetscherin – mit meinen Händen schreibe ich, ich helfe Menschen, sich zu verstehen.

    Meine Hände können wieder etwas aufbauen, wenn auch auf eine andere Weise. Sie haben den Krieg nicht vergessen, aber sie gehören nicht mehr nur dem Verlust. Sie gehören wieder mir.

    Was fehlt Dir aktuell? Wie sieht Dein soziales Umfeld aus?

    Was mir fehlt? Heimat. Nicht nur der Ort, sondern das Gefühl, irgendwo wirklich zu gehören.

    Mein soziales Umfeld hier ist anders als in Afghanistan. Ich habe einige Freunde, andere Geflüchtete, mit denen ich mich austauschen kann. Wir verstehen einander ohne viele Worte, weil wir Ähnliches erlebt haben. Aber ich vermisse meine Familie, meine alten Freundschaften, die Vertrautheit meiner Sprache und Kultur.

    Die Menschen hier sind freundlich, aber oft bleibt eine Distanz. Sie können sich mein Leben nicht vorstellen, und ich kann nicht immer erklären, was in mir vorgeht. Ich versuche, mir hier ein neues Zuhause aufzubauen, aber es fühlt sich manchmal an wie ein Haus ohne festes Fundament.

    Kannst du mir nahe bringen, wie es ist, eine Frau in Afghanistan zu sein? Gibt es Freiräume, die im Privaten möglich sind, auch was Kultur und Bildung angeht?

    Eine Frau in Afghanistan zu sein, bedeutet, ständig zwischen Angst und Hoffnung zu leben. Zwischen dem, was verboten ist, und dem, was man sich trotzdem nimmt.

    Ja, es gibt Freiräume, aber sie sind versteckt, zerbrechlich. Im Privaten, in den eigenen vier Wänden, konnten wir manchmal sein, wer wir sein wollten. Dort konnten wir lesen, lernen, diskutieren – wenn unsere Familien es erlaubten. Manche Väter, Brüder, Ehemänner unterstützten uns, gaben uns Bücher, ließen uns träumen. Andere nicht.

    Bildung war immer ein Kampf. Mal gab es Schulen für Mädchen, mal wurden sie geschlossen. Mal durften Frauen arbeiten, dann wieder nicht. Alles hing davon ab, wer gerade an der Macht war, wie viel Risiko man eingehen wollte. Manche Frauen haben im Verborgenen unterrichtet, haben Bücher versteckt, haben sich Wissen angeeignet, obwohl es ihnen verboten war.

    Kultur? Auch die musste oft heimlich gelebt werden. Musik, Poesie, Kunst – sie haben uns Kraft gegeben, aber oft nur im Geheimen. In manchen Familien wurde trotzdem gefeiert, wurde gesungen, wurden Geschichten erzählt. Aber immer mit der Angst, dass jemand es sehen oder hören könnte, der es nicht gut meint.

    Eine Frau in Afghanistan zu sein, heißt, in einem ständigen Zwiespalt zu leben: zwischen Anpassung und Widerstand, zwischen Angst und Mut, zwischen Verbot und dem heimlichen Trotzdem.

    Und wie ist es jetzt bei Dir? Wie lebst du als Frau in Bristol?

    In Großbritannien bin ich freier – zumindest äußerlich. Ich kann mich bewegen, ohne Angst, kann arbeiten, kann lernen. Niemand schreibt mir vor, was ich anziehen muss oder ob ich das Haus verlassen darf.

    Aber Freiheit fühlt sich nicht immer leicht an. Manchmal bin ich verloren in ihr. Hier erwartet niemand von mir, dass ich mich verstecke – aber ich habe so lange im Schatten gelebt, dass es schwer ist, ins Licht zu treten.

    Ich arbeite daran, mich selbst neu zu finden. Immernoch. Ich lerne weiter, ich baue mir etwas auf. Aber es gibt Dinge, die mir fehlen: das Gefühl von Zugehörigkeit, die Sprache meiner Kindheit, das Verständnis für meine Geschichte.

    Ich bin frei – ja. Aber ich trage meine Vergangenheit in mir. Sie reist mit, auch in dieses neue Leben.

    Welchen Interessen gehst Du derzeit nach? Womit beschäftigst Du Dich?

    Derzeit beschäftige ich mich viel mit dem Erlernen der englischen Sprache. Als wäre ich Muttersprachlerin. Das ist für mich ein Schlüssel, um hier wirklich anzukommen – um mich zu verständigen, aber auch um ein neues Leben zu schaffen.

    Ich interessiere mich auch sehr für die Kultur hier, versuche, mich in Literatur und Kunst zu vertiefen, um zu verstehen, wie Menschen hier denken und leben. Das fühlt sich oft wie eine Entdeckung an – ich erlebe „die Welt“ von einer anderen Seite.

    Außerdem möchte ich weiter als Dolmetscherin arbeiten. Es gibt so viele, die wie ich ihre Heimat verlassen haben und die sich schwer tun, sich zu verständigen. Ich möchte ihnen helfen, die Brücke zu schlagen, die mir selbst geholfen hat.

    Nebenbei finde ich auch Trost in der Poesie und im Schreiben. Es hilft mir, das, was in mir ist, in Worte zu fassen. Manchmal schreibe ich über das, was ich hier erlebe, über das, was ich hinter mir gelassen habe. Schreiben hilft mir, mich zu ordnen und zu heilen.

    Ich versuche, diese Dinge zu tun, aber es ist nicht immer leicht. Es gibt Tage, an denen ich das Gefühl habe, mich zu verlieren, an denen ich nicht weiß, wie ich weitermachen soll. Aber ich versuche es, weil ich glaube, dass es mich eines Tages irgendwo hinführt, wo ich wirklich wieder leben kann.

    Nachdem was Du erlebt hast: interessierst Du dich für Politik? Bringst Du Dich ein?

    Ja, ich interessiere mich für Politik – mehr als je zuvor. Der Krieg hat mir gezeigt, wie sehr politische Entscheidungen das Leben von Menschen beeinflussen können. Wie sie alles zerstören oder retten können. Ich habe erlebt, wie Menschen durch die Machtstrukturen leiden, aber auch, wie sie sich trotz allem auflehnen und für ihre Rechte kämpfen.

    Ich bringe mich auf die Weise ein, wie es mir hier möglich ist. Ich spreche mit anderen, versuche, ihnen zu erklären, wie es in meinem Land war, wie wichtig es ist, nicht wegzuschauen, wenn Unrecht passiert. Ich versuche, meine Erfahrungen zu teilen, damit sie als Stimme derer gehört werden, die unterdrückt werden.

    Ich bin noch vorsichtig, wie laut ich werde, weil ich mich hier noch nicht ganz angenommen fühle. Aber ich weiß, dass die Geschichten von uns, die geflüchtet sind, gehört werden müssen – dass sie ein Teil des Dialogs über die Zukunft sein müssen. Ich habe gelernt, dass man durch Politik Veränderung bewirken kann – auch wenn es manchmal lange dauert, bis diese Veränderungen sichtbar werden.

    Und wie sieht es mit den Rechten der Frau , der Gleichberechtigung aus? Bist Du da aktiv?

    Ja, die Rechte der Frauen und die Gleichberechtigung sind für mich schon ein wichtiges Thema. In Afghanistan habe ich selbst erlebt, wie Frauen unterdrückt wurden, wie uns Chancen und Freiheiten verwehrt wurden. Inklusive körperlicher Gewalt. Das hat mich tief geprägt.

    Hier in Großbritannien fühle ich mich zwar freier, aber ich sehe immer noch, dass Frauen auf vielen Ebenen benachteiligt sind – sei es in der Arbeitswelt, in der Politik oder im täglichen Leben. Es ist nicht perfekt, aber hier gibt es die Möglichkeit, aktiv zu sein, sich zu engagieren und die Stimme zu erheben.

    Ich versuche, mich für die Rechte der Frauen einzusetzen, indem ich mit anderen Frauen spreche, ihre Geschichten höre und uns gegenseitig unterstütze. Ich habe auch angefangen, mich in Organisationen zu engagieren, die sich für Frauenrechte stark machen, insbesondere für Frauen, die wie ich aus Konfliktregionen geflüchtet sind. Es gibt viele von uns, die Unterstützung brauchen – nicht nur durch Gesetze, sondern durch Gemeinschaft und Solidarität.

    Ich glaube, dass jede kleine Handlung zählt, und ich versuche, meinen Teil beizutragen. Denn wahre Gleichberechtigung ist nicht nur ein gesetzliches Recht, sondern auch eine gesellschaftliche Haltung – und die braucht Zeit, Geduld und vor allem aktiven Widerstand.

    …wird fortgesetzt.

    Was mir beim Übertragen der Fragen und Antworten (wertfrei) auffällt: Obwohl wir uns bereits einige Jahre kennen und unsere Gespräche wenig Smalltalk beinhalten: Es stellt sich keine Vertrautheit ein.

  • Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung

    Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung

    Die Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Stiftung wurde 2006 von der Künstlerin Ursula Mattheuer-Neustädt ins Leben gerufen, um das künstlerische Erbe ihres verstorbenen Ehemannes, des renommierten Malers und Grafikers Wolfgang Mattheuer, zu bewahren. Die Stiftung hat ihren Sitz in Leipzig, im ehemaligen Wohn- und Arbeitshaus des Künstlerpaares in der Hauptmannstraße 1.

    Ziel der Stiftung ist es, die Werke beider Künstler wissenschaftlich zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ein besonderer Fokus liegt auf Wolfgang Mattheuers Tätigkeit als akademischer Lehrer und seinem prägenden Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen. Die Stiftung sammelt, pflegt und verwaltet zahlreiche Gemälde, Plastiken, Zeichnungen und grafische Arbeiten sowie den schriftlichen Nachlass und publizistische Arbeiten beider Künstler. Darüber hinaus unterstützt sie wissenschaftliche Forschungen und Studien über ihr Werk.

    Um zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler zu fördern, die in der Tradition der gegenständlichen Kunst arbeiten, vergibt die Stiftung den „Ursula Mattheuer-Neustädt und Wolfgang Mattheuer Preis für gegenständliche Bildkunst“. Dieser Preis würdigt Künstler, die in ihrer Arbeit eine ähnliche kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und existenziellen Themen pflegen, wie es insbesondere Wolfgang Mattheuer tat.

    Ursula Mattheuer-Neustädt (1926–2021) wirkte als talentierte Zeichnerin, Grafikerin und Buchillustratorin. Sie studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig und war sowohl als freie Künstlerin als auch als Lehrerin tätig. Ihre Buchgestaltungen wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Prädikat „Schönste Bücher“.

    Wolfgang Mattheuer (1927–2004) war einer der bedeutendsten Vertreter der Leipziger Schule. Seine Werke zeichnen sich durch eine symbolhafte Bildsprache und eine tiefgründige Reflexion über die menschliche Existenz aus. Mit seiner Kunst setzte er sich kritisch mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander und hinterfragte Normen und Ideologien.

    Durch die Gründung der Stiftung hat Ursula Mattheuer-Neustädt eine Institution geschaffen, die nicht nur das Erbe ihres Mannes und ihr eigenes bewahrt, sondern auch den künstlerischen Diskurs weiterführt. Sie ermöglicht es kommenden Generationen, sich mit den Werken dieser beiden bedeutenden Künstler auseinanderzusetzen und deren Einfluss auf die Kunstgeschichte lebendig zu halten.

  • Ein deutscher Lebenslauf

    Ein deutscher Lebenslauf

    Meine LektüreNotizen > Wolfgang Mattheuer „Äußerungen“ | Texte & Graphik

  • Wolfgang Mattheuer | Äußerungen

    Wolfgang Mattheuer | Äußerungen

    Wolfgang Mattheuers „Äußerungen“, veröffentlicht 1990 im Reclam-Verlag Leipzig, umfasst 245 Seiten und enthält 99 Schwarz-Weiß-Reproduktionen seiner grafischen Werke, darunter Lithographien, Linolschnitte und Holzschnitte. Diese visuellen Arbeiten werden durch Mattheuers eigene Texte ergänzt, die tiefe Einblicke in seine Gedankenwelt und künstlerische Entwicklung bieten.

    In seinen Schriften betonte Mattheuer die Verantwortung des Künstlers, sich aktiv in gesellschaftliche Diskurse einzubringen:

    Wolfgang Mattheuer
Äußerungen | Texte & Grafik
Reclam Verlag Leipzig 1990

    „Der Bildermacher kann sich nicht heraushalten aus dem Streit seiner Zeit. Er muss den Mut haben, sich einzumischen, auch wenn er dabei Wunden und Narben davonträgt.“

    wortschwall-lorentzen.de

    Diese Haltung spiegelt sich sowohl in seinen Texten als auch in seinen grafischen Arbeiten wider, die oft eine kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Themen zeigen.

    Mattheuer, geboren 1927 in Reichenbach im Vogtland, war ein prägender Künstler der DDR und Mitbegründer der sogenannten Leipziger Schule. Seine Werke zeichnen sich durch eine Verbindung von Realismus und Symbolik aus und reflektieren seine kritische Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen. Mit „Äußerungen“ schuf er ein Werk, das sowohl seine künstlerische als auch seine schriftstellerische Tätigkeit dokumentiert und dem Leser einen umfassenden Einblick in sein Schaffen ermöglicht.

    Meine LektüreNotizen – folgt

  • Skizzenbücher als Ursprung künstlerischer Inspiration und Ausdruckskraft

    Skizzenbücher als Ursprung künstlerischer Inspiration und Ausdruckskraft

    Skizzenbücher sind weit mehr als bloße Notizsammlungen oder Vorstudien für spätere Werke. Sie sind intime, oft verborgene Orte kreativer Schöpfung, in denen der erste Impuls eines Künstlers unmittelbar Gestalt annimmt. Diese kleinen Bücher begleiten ihre Besitzer überall hin, bereit, den entscheidenden Moment festzuhalten. Für viele Künstler ist das Skizzenbuch daher ein unersetzlicher Begleiter, in dem die pure Essenz ihrer Wahrnehmung eingefangen wird.

    Das Skizzenbuch als Ort des ersten Sehens

    Der Moment, in dem ein Motiv oder eine Idee erstmals ins Bewusstsein tritt, ist von besonderer Intensität. Hier geschieht etwas Einzigartiges: die „Ekstase des ersten Sehens“, wie es Kirchner beschrieb. Diese flüchtigen Augenblicke fordern eine sofortige Umsetzung – ein Drang, der Künstler dazu bewegt, spontan zu Stift und Papier zu greifen. Diese rohe, unverfälschte Energie lässt sich oft nicht reproduzieren, weshalb viele Künstler ihren ersten Skizzen eine besondere Bedeutung beimessen.

    Vom Vorläufigen zum Unverzichtbaren

    Obwohl Skizzenbücher lange als reine Vorarbeiten zu großen Kunstwerken galten, betrachten viele Künstler sie als eigenständige Werke. Die Vorstellung, dass das wahre Kunstwerk erst in der finalen Fassung auf Leinwand oder Papier entsteht, ist einseitig. Tatsächlich steckt im Skizzenbuch oft die Essenz eines Kunstwerkes – nicht erst am Ende des kreativen Prozesses, sondern bereits am Anfang.

    Selbst große Meister wie Michelangelo oder Leonardo da Vinci sollen ihre Skizzenbücher nach Gebrauch vernichtet haben, da sie als überholt galten. Doch viele moderne Künstler denken anders: Ernst Ludwig Kirchner schätzte die ersten Entwürfe am meisten, Max Beckmann entschied dort, welche Motive auf Leinwand gebracht werden sollten, und Paul Thek nutzte seine Skizzenbücher als therapeutischen Schutzraum.

    Der geschützte Raum der Kreativität

    Ein weiteres wesentliches Merkmal von Skizzenbüchern ist ihre Funktion als geschützter Raum. Anders als Werke, die in Galerien oder Museen ausgestellt werden, sind Skizzenbücher oft nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Sie dienen dem Künstler allein – frei von Erwartungen des Marktes oder des Publikums. Viele große Namen wie Munch, Grosz oder Polke hielten ihre Skizzenbücher unter Verschluss, sie wurden weder verkauft noch ausgestellt, da sie als zu persönlich galten.

    Von der Skizze zur Illustration von Texten

    Die Bedeutung des Skizzenbuchs geht jedoch über die bildende Kunst hinaus. Wer sich mit Lyrik oder Prosa beschäftigt, kann aus diesen visuellen Notizen Inspiration für eigene Illustrationen ziehen. So wie ein Künstler den flüchtigen Eindruck eines Moments in einer schnellen Skizze einfängt, kann ein Schriftsteller oder Illustrator aus diesen ungeschönten, direkten Momentaufnahmen neue Wege der Interpretation finden. Die Rohheit und Unmittelbarkeit eines Skizzenbuchs kann somit helfen, literarische Texte auf eine ebenso authentische Weise zu bebildern.

    Fazit

    Skizzenbücher sind mehr als einfache Vorarbeiten – sie sind intime Dokumente künstlerischer Prozesse. Sie erfassen die Essenz des kreativen Schaffens in ihrer reinsten Form und bleiben oft im Verborgenen. Doch gerade diese Ursprünglichkeit macht sie zu einer wertvollen Inspirationsquelle, auch für Schriftsteller und Illustratoren. Wer literarische Werke bebildern möchte, kann aus diesen Skizzen oft mehr lernen wie aus vollendeten Meisterwerken.

  • Erzählende Grafik

    Erzählende Grafik

    Wenn ein Bild den Erzählimpuls gibt

    Ein bekanntes Beispiel für die Kraft des Einzelbildes ist die Kunst von Chris Van Allsburg. Sein Buch „Die geheimnisvolle Tür“ (The Mysteries of Harris Burdick) besteht aus einer Sammlung rätselhafter Illustrationen, jede begleitet von einem einzigen Satz – genug, um unzählige Geschichten zu inspirieren. Diese Bilder wurden in Schulen genutzt, um Schüler zum Geschichtenerzählen anzuregen, und sogar namhafte Autoren wie Stephen King haben sich davon inspirieren lassen.

    Ein weiteres Beispiel findet sich in den surrealen Werken von René Magritte. Seine Gemälde, etwa „Der Sohn des Menschen“, wecken beim Betrachter Fragen: Wer ist der Mann mit dem Apfel vor dem Gesicht? Warum kann man nicht hinter die Frucht blicken? Diese Fragen führen zu Erzählungen – ob in Textform, als Filmidee oder als Musikstück.

    Illustration als Ausgangspunkt für andere Kunstformen

    Ein Beispiel aus der DDR-Buchkunst ist der Illustrator Werner Klemke. Seine detailreichen, oft humorvollen Zeichnungen ließen Spielraum für eigene Geschichten, die über den ursprünglichen Buchkontext hinausgingen. Auch in der Kunst von Alfred Kubin, dessen düstere Illustrationen häufig von einer eigenen Fantasiewelt erzählen, finden sich Anknüpfungspunkte für andere Erzählformen.

    In unserer Rubrik Die erzählende Grafik wollen wir solche Bilder sammeln und betrachten: Welche Geschichte steckt in ihnen? Welche Möglichkeiten bieten sie, um die Erzählung weiterzuführen? Vielleicht inspiriert eines dieser Bilder dich dazu, es in einer anderen Form weiterzuspinnen – sei es als Text, Lied oder eigene Illustration. Ein besonderer Fokus liegt auf meinem Bestand illustrierter Bücher, hier setze ich an.

  • Buchkunst und illustrierte Bücher – Eine Hommage

    Buchkunst und die Gestaltung von Büchern sind mehr als nur ein Thema – sie sind eine Leidenschaft, die bibliophile Menschen in ihren Bann zieht. Für diese Liebhaber des Schönen ist ein Buch nicht einfach nur ein Träger von Texten, sondern ein Kunstwerk, das mit Sorgfalt und Hingabe gestaltet wird. Jedes Detail spielt eine Rolle: die Wahl des Papiers, die Gestaltung des Einbands, das Lesebändchen, die Illustrationen und vieles mehr.

    Bibliophile sind ein besonderes Völkchen, das seine Passion mit Hingabe pflegt. Sie sind Jäger und Sammler zugleich, stets auf der Suche nach besonderen Schätzen der Buchkunst. Das bibliophile Buch ist ihr Begehren – und tatsächlich ist die »schwarze Kunst« des Buchdrucks einzigartig. Sie ist mit keiner anderen Kunstform zu vergleichen, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, in der Globalisierung und technische Optimierung den Buchdruck oft zur Massenware degradieren.

    Doch in der Welt der Buchkunst tickt die Zeit anders. Hier entstehen in oft handwerklichen Prozessen wahre Preziosen der Druckkunst: illustrierte Literatur, die Geschichten nicht nur erzählt, sondern sie auch visuell zum Leben erweckt, oder Kunstwerke, die durch literarische Begleitung eine neue Dimension erhalten. Es sind Werke, die nicht nur gelesen, sondern auch erlebt werden wollen.

    Und ja, es gibt sie noch, diese besonderen Ausgaben für »schöne Geister« – für Menschen, die das Außergewöhnliche schätzen und die sich an der Ästhetik und der handwerklichen Perfektion eines Buches erfreuen. In dieser Rubrik finden Sie eine Auswahl an Klassikern der Literatur, aber auch Randerscheinungen und vergessene Werke, die es verdienen, wiederentdeckt zu werden. Tauchen Sie ein in die Welt der Buchkunst und lassen Sie sich von der Magie illustrierter Bücher verzaubern.

  • Lyrik und Kurze Prosa

    Lyrik und Kurze Prosa

    „Lyrik ist Gatekeeper für ein besseres Sprachgefühl“ damit meine ich, dass Lyrik (also Gedichte und poetische Texte) und Kurzprosa eine Schlüsselrolle dabei spielen, ein tieferes Verständnis und ein feineres Gespür für Sprache zu entwickeln.

    Lyrik arbeitet oft mit besonderen sprachlichen Mitteln wie Metaphern, Rhythmus, Reimen und einer verdichteten Ausdrucksweise. Um Lyrik zu verstehen und zu genießen, machtes Sinn, sich intensiv mit der Sprache auseinandersetzen, was wiederum das Sprachgefühl schärft. Und das meine ich in eher nicht-akademisch. In diesem Sinne erhoffe ich mir, dass Lyrik (m)ein „Torwächter“ (Gatekeeper) ist, der mir den Zugang zu einem besseren Sprachverständnis ermöglicht oder erleichtert.

    Wer sich mit Lyrik beschäftigt, lernt, die Nuancen und Möglichkeiten der Sprache besser zu erkennen und zu nutzen – sei es im eigenen Schreiben, im Lesen oder im allgemeinen Umgang mit Sprache. Daher lese ich ausschließlich aktiv.

    Annähernd gelesen – LektüreNotizen

    Überblick erfasste Lyrikbände

  • In der Begegnung mit dem Anderen

    In der Begegnung mit dem Anderen

    LektüreNotizen zu Günter Abramowskis Lyrikband zu sein/das haus/auf dem weg:

    Manchmal erreichen mich Bücher – einfach so. So geschah es auch mit Günter Abramowskis Gedichtband zu sein das haus auf dem weg, den er mir 2022 unaufgefordert zusandte und mich -zufällig- an meinem Geburtstag erreichte. Die Frage, was ihn zu diesen Gedichten bewegt hat, beantwortete er mit einer persönlichen Rückschau.

    In einer Mail an mich schrieb er: Als ich zu schreiben begann wusste ich, dass meine Texte keine intellektuellen Konstrukte sein sollten sondern „überdachte“ Erfahrungsberichte, die sich in mir selbst auswirken konnten, dass sich mein Innerstes (Haus) erweiterte, dass, was ich in meinem bewussten Leben bergen, auch bewusst ins Leben tragen konnte. (Siehe Porträt)

    Dem titelgebende Gedicht habe ich mich ausführlich gewidmet: Es entfaltet eine Reflexion über Existenz, Zeit und Verbundenheit – Themen, die sich durchaus in einen aktuellen Kontext einbetten lassen, insbesondere in Bezug auf Achtsamkeit, Ökologie und die Suche nach Sinn in einer unbeständigen Welt. Hier meine Lesart.

    „In der Begegnung mit dem Anderen“ – Diese Zeile stammt aus dem Gedicht auf der Rückseite es Bandes.

    Foto: Oliver Simon

  • Günter Abramowski – Lyriker

    Günter Abramowski – Lyriker

    Günter Abramowski wurde im April 1948 in Bochum geboren und wuchs in Wattenscheid auf. Nach dem Realschulabschluss und einer kaufmännischen Ausbildung studierte er Sozialarbeit in Dortmund. Anschließend arbeitete er als Drogenberater und später in verschiedenen Berufen in unterschiedlichen Städten. Mitte der 1970er Jahre zog er aufs Land, um sich intensiver dem Schreiben zu widmen, und studierte später Theaterwissenschaften in Berlin. Seit Mitte der 1980er Jahre lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller in Dortmund.

    Mit literarischen Arbeiten trat Abramowski ab 1994 an die Öffentlichkeit. Er veröffentlichte einen Band mit Innenraum-Fiktionen sowie acht Gedichtbände. Seine Gedichte erforschen überwiegend das Verhältnis des Selbst zur Außenwelt und laden ein, über die eigene Herkunft und eine menschenwürdige Zukunft nachzudenken. Auffällig ist seine durchgängige Kleinschreibung sowie die Verwendung des tironischen „&“ anstelle des Wortes „und“.

    Abramowskis Gedichte sind eng mit seiner Lebensgeschichte verbunden. Im Alter von vier Jahren erkrankte er an Polio und verbrachte sechs Wochen auf einer Isolierstation. Körperlich überstand er die Krankheit unversehrt, doch die Erfahrung des Alleinseins prägte ihn tief. In dieser Zeit entwickelte sich ein starkes Wachsein-Wollen – ein Zustand, in dem Innen und Außen ineinander fließen konnten. In der Stille fand er einen Raum der Geborgenheit, in dem sich Fragen klärten und sich eine innere Welt zu formen begann.

    Mit acht Jahren starb seine Mutter im Alter von 36 Jahren. Die vier Geschwister – zwischen drei und zwölf Jahre alt – standen vor einer neuen Realität. Der Vater, Beamter bei der Deutschen Bahn, heiratete erneut, um die Familie zusammenzuhalten. In dieser Zeit wurde es für Abramowski lebensnotwendig, klar zu bleiben, bewusst wahrzunehmen, das Erlebte nicht zu verdrängen, sondern sich damit auseinanderzusetzen.

    Günter Abramowski - Lyriker - ersatzgestalt - Foto: Privat
    Günter Abramowski – Foto: Privat

    Diese frühen Erlebnisse prägten seine Haltung zum Schreiben:
    Als ich zu schreiben begann wusste ich, dass meine Texte keine intellektuellen Konstrukte sein sollten sondern „überdachte“ Erfahrungsberichte, die sich in mir selbst auswirken konnten, dass sich mein Innerstes (Haus) erweiterte, dass, was ich in meinem bewussten Leben bergen, auch bewusst ins Leben tragen konnte.

    Abramowski hat sein Leben so offen, frei und intensiv wie möglich gelebt. Seine Gedichte reflektieren diese Haltung: eine Spurensuche nach der Verbindung zwischen Wahrnehmung und Sein. Die Welt erscheint ihm als Schöpfung unserer irdischen Wahrnehmung – wundervoll und schrecklich zugleich. „Und manchmal denke ich“, schreibt er, „das Bewusstsein prägt das Sein. Kümmert man sich nicht darum, verliert sich das Leben.“

    Diese Reflexion zieht sich wie ein stiller Grundton durch sein Werk. Es sind Gedichte, die nicht nur gelesen, sondern auch nachgehört werden wollen – Worte, die Raum lassen für das eigene Wachsein.

    LektüreNotizen: zu sein das haus auf dem weg
    LektüreNotizen: wer ist wir

error: Content is protected !!