Ringen mit Cans Lyrik: Eine persönliche Annäherung an „Poesie und Pandemie“ und darüber hinaus
Beim Eintauchen in Safiye Cans Lyrikband „Poesie und Pandemie“ wurde mir immer wieder bewusst, wie unterschiedlich kollektive Erfahrungen wahrgenommen werden können. Ich habe mit vielen der Texte gerungen – und ringe noch immer mit ihnen. Oft überkam mich das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein, da meine persönliche Wahrnehmung und mein Erleben der Pandemie stark von dem abwichen, was im Band thematisiert wird. Ich kenne die beschriebenen Ängste und Isolationen, die viele Menschen durchlebten, nicht aus erster Hand.
Für mich, die ich auf dem Land lebe, war diese Zeit eher von einer unerwarteten Ruhe und Muße geprägt, die Raum für persönliche Entfaltung bot, statt von direkter Not oder sozialer Isolation. Doch dieses Gefühl des „Anders-Wahrnehmens“ beschränkt sich nicht nur auf die Pandemie-Thematik.
Auch in anderen Texten Cans, beispielsweise in der Rubrik „Die Welt. wird. lila. werden!“, die sich mit Feminismus und Gleichberechtigung auseinandersetzt, finde ich manchmal schwer einen direkten Zugang. Dies bedeutet keineswegs, dass ich die Dramatik und das Leid vieler Menschen leugne oder die Relevanz dieser Themen infrage stelle. Ganz im Gegenteil: Gerade dieses „Anders-Wahrnehmen“ macht die Lektüre und die Auseinandersetzung mit Cans Gedichten umso reizvoller und lehrreicher. Es eröffnet einen wichtigen Blick auf die vielschichtigen Realitäten unserer Gesellschaft und die universellen Themen von Ungleichheit, Menschlichkeit und der Rolle der Poesie in Krisenzeiten, die der Band auf so eindringliche Weise verhandelt.
Safiye Can, geboren 1977 in Offenbach, ist eine preisgekrönte Lyrikerin mit tscherkessischen Wurzeln. Sie wurde unter anderem 2016 mit dem Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis ausgezeichnet. In ihrem Schaffen verbindet sie tiefgreifende philosophische, psychoanalytische und juristische Studien mit den reichen Einflüssen persischer und arabischer Dichtung. Bekannt ist sie zudem für ihr Engagement in der konkreten Poesie, die Erstellung komplexer Collagen und die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen.
Safiye Cans vierter Gedichtband, „Poesie und Pandemie“, erschienen im Juli 2021 im Wallstein Verlag, ist mehr als eine literarische Auseinandersetzung mit der COVID-19-Krise. Der Band reflektiert nicht nur die medizinische Pandemie, sondern erweitert den Begriff auf strukturelle „Pandemien“ wie Rassismus, Sexismus und Diskriminierung, die unsere Gesellschaft prägen.
Die Lyrikerin definiert Pandemien als umfassende kollektive Krisen: von sozialer Ungerechtigkeit über den Hanau-Anschlag und Frauenbenachteiligung bis hin zur Klimakrise. Sogar die Liebe wird als „Gegen-Virus“ inszeniert. Der Titel „Windlicht für dunkle Tage“ aus einem der Kapitel symbolisiert die Lyrik als Trost und Orientierung in existenziellen Nöten.
Zentrale Motive des Bandes sind die Kollektiverfahrung der Pandemie, die als global verbindendes und zugleich isolierendes Ereignis beschrieben wird („Wir starben dieses Jahr alleine“). Ein weiterer Schwerpunkt ist der Feminismus. Gedichte wie „Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung“ oder das Gemeinschaftswerk „Wenn du eine Frau bist“, an dem 150 Frauen mitwirkten, thematisieren Gewalt und Ungleichheit. Sie münden jedoch stets in empowernde Appelle wie „Die Welt. wird. lila. werden!“. Auch die Menschlichkeit wird großgeschrieben: Alltägliche Erfahrungen wie Mehl, Seife oder Telefongespräche werden mit politischen Forderungen verknüpft, um Solidarität zu betonen: „Mensch ist Mensch. / Wir sind eins“.
Experimentelle Vielfalt
Cans Werk zeichnet sich durch eine bemerkenswerte experimentelle Vielfalt aus. Sie nutzt Collagen und visuelle Poesie, indem sie Zeitungsausschnitte, Breaking News (etwa zum Hanau-Anschlag) oder Hygienestatistiken in ihre Texte integriert. Im Gedicht „Europa auf dem Prüfstand“ wird Text über eine Landkarte projiziert, um politische Kritik visuell zu verdichten. Das titelgebende Langgedicht „Poesie und Pandemie“ (ca. 45 Seiten) ist durch eindringliche Wiederholungen wie „Wir haben in diesem Jahr gelernt“ oder „Wir haben gesehen“ strukturiert. Es verbindet Alltagsbeobachtungen (Händewaschen) mit globalen Krisen. Can kombiniert traditionelle und aktivistische Formen, indem sie direkte Appelle („Frauen, bildet eine Faust!“) neben persönlichen Liebesgedichten wie „Liebe zur Quarantänezeit“ platziert.
Ihre sprachlichen Mittel sind geprägt von Rhythmus und Wiederholung, die durch Parallelismen wie „Liebesschmerz ist immer Liebesschmerz“ hymnische oder mantraartige Effekte erzeugen. Zitate und Intertextualität, etwa Kierkegaards Motto, das den Band rahmt, oder Nachrichtenmeldungen, verankern die Texte fest in der Realität.
Schlüsselgedichte und ihre Bedeutung
Besonders hervorzuheben sind mehrere Gedichte. „Wenn du eine Frau bist“, ein beeindruckendes Gemeinschaftsprojekt, listet strukturelle Gewalt auf („wenn du deine Meinung sagst, wirst du bedroht“) und entlarvt systematische Unterdrückung, mündend in einem Hoffnungsschimmer. „Wir gehören zusammen“ reagiert auf rassistische Gewalt (Hanau) und Queer-Feindlichkeit. Die Simplizität der Sätze („Liebe ist Liebe“) unterstreicht die universelle Menschlichkeit, wurde aber auch als „Bauplan für Utopie“ ohne Ambivalenz kritisiert. Das Langgedicht „Poesie und Pandemie“ gliedert sich in zwei Teile: Der erste fokussiert auf Lernerfahrungen („Wir lernten, was wichtig ist: Mehl, Salz, Stimmen am Telefon“), der zweite dokumentiert Sinneseindrücke und zitiert Pressemeldungen zur Pandemie. Die Collagenstruktur zeigt, wie „Billigproduktion und Konsumwahn“ mit Gesundheitskrisen verknüpft sind.
Rezeption und Bedeutung
Der Lyrikband wurde vielfach gelobt, etwa als „seelische Hausapotheke“ (Michael Augustin) und „zeitgeschichtliches Dokument“. Die Mischung aus „Kaleidoskop der Schmerzen“ und musikalischer Leichtigkeit sowie die innovativen Collagen, die „Assoziationsräume über Wortkunst hinaus öffnen“, fanden große Anerkennung. Es gab jedoch auch Kritik: Einige Rezensenten monierten eine „agitatorische Simplizität“ und verglichen Gedichte wie „Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung“ mit „Demo-Bannern“, denen lyrische Ambivalenz fehle. Die Frankfurter Rundschau sprach teils von „Glückskeks-Poesie“, die persönliche Reflexion zugunsten allgemeiner Botschaften vernachlässige. Trotzdem überwiegen auf Goodreads positive Bewertungen, wo Leser die „messerscharfe, menschenfreundliche“ Sprache und emotionale Tiefe schätzen.
„Poesie und Pandemie“ ist ein Zeitdokument, das die kollektive Verunsicherung während COVID-19 einfängt und zeigt, wie Pandemien soziale Ungleichheiten verschärfen. Es ist dabei wichtig zu erkennen, dass die Pandemie keine homogene Erfahrung war. Während viele von starkem Leid, Isolation und wirtschaftlichen Sorgen betroffen waren, erlebten andere, beispielsweise im ländlichen Raum, die Zeit auch als eine Phase der unerwarteten Ruhe und Muße, die Raum für persönliche Projekte oder das Entdecken neuer Hobbys bot. Dieser Kontrast in den persönlichen Realitäten unterstreicht die Komplexität der damaligen Zeit und zeigt auf, wie unterschiedlich sich globale Krisen im Alltag manifestieren können, ohne dabei die Dramatik der negativen Erfahrungen zu leugnen. Es fällt mir daher schwer, vielen Inhalten zu folgen.
Cans Werk steht in der Tradition „aufrechter Literatur“ und oszilliert zwischen Scheherazades Erzählmagie und Brechtscher Agitation. Es ist ein „poetischer Wurf“ zwischen Emphase und Engagement, der Cans Fokus auf Marginalisierte fortsetzt und globale Dimensionen hinzufügt.
„Poesie und Pandemie“ ist weit mehr als eine bloße COVID-19-Chronik; es ist ein lyrisches Manifest gegen alle „Krankheitsverläufe“ der Gesellschaft. Trotz der gelegentlichen Kritik an seiner Direktheit überzeugt der Band durch seine experimentelle Kühnheit und eine tief empfundene humane Dringlichkeit. Als „Windlicht für dunkle Tage“ bietet er keine einfachen Lösungen, sondern eine solidarische Resonanz und die Aufforderung, selbst zur „Hauptdarsteller*in“ im Kampf für Gerechtigkeit zu werden. Der Band enthält acht teils farbige Collagen und ist bei Wallstein erschienen (ISBN 978-3-8353-5008-3). Leseproben und weitere Informationen sind auf der Verlagsseite verfügbar.
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