Schreiben im reinen Präsens. Ein Experiment nach Frank Witzel

Frank Witzel beginnt seinen Text über vergessene, verkannte und verschollene Autoren mit einem Eingeständnis: Der Vorgang des Erinnerns, obwohl er sein gesamtes literarisches Schaffen zu durchziehen scheint, erscheint ihm als „diffuse und unzureichende Prämisse für das Schreiben“. Was auf den ersten Blick wie eine Selbstkritik klingt, entpuppt sich als radikale Sehnsucht nach einem anderen Schreiben – einem „erinnerungslosen Schreiben, das allein aus dem Moment heraus entsteht und im Moment verbleibt“.

Witzel beschreibt hier eine produktive Erschöpfung. Er ist müde vom Erinnern als literarischer Methode, obwohl – oder gerade weil – es seine Praxis dominiert. Seine Vision: ein Schreiben, das weder in der Vergangenheit nach Material sucht noch in die Zukunft auf ein Ziel hinarbeitet. Ein Schreiben als reiner Akt der Gegenwart, „ohne auf etwas anderes zu schauen als auf diesen Moment selbst“.

Zwischen den Zeilen tobt ein existenzieller Kampf. Der Reflexions-Künstler ringt mit dem Moment-Künstler. Erinnerung wird zur Tyrannei, zum Filter, der den unmittelbaren Blick auf die Welt trübt. Schreiben, das auf die Vergangenheit schaut, wird unweigerlich zur Verarbeitung. Schreiben, das in die Zukunft blickt, wird zum Projekt, zur Absicht. Beides – so Witzels implizite These – verunreinigt den reinen Akt.

Doch hier liegt das fundamentale Paradox: Dieser Wunsch nach erinnerungslosem Schreiben entspringt selbst der Reflexion über die Erinnerung. Der Text über das Vergessen ist hochgradig rückwärtsgewandt. Dies ist keine Schwäche, sondern die eigentliche Spannung, die Witzels Gedanken antreibt – die romantische Unmöglichkeit, aus dem Bewusstsein herauszutreten, während man über das Bewusstsein schreibt.

Man könnte die Diagnose zuspitzen: Erinnerung ist nicht nur existenzielle Last, sondern auch ökonomische Währung. Der zeitgenössische Literaturbetrieb honoriert authentische Erfahrung, biografisches Zeugnis, die Verarbeitung von Trauma und Identität. Witzels Sehnsucht wäre dann auch eine Form der Verweigerung – nach einem Schreiben, das sich dieser Ökonomie entzieht, das nicht mehr repräsentiert oder legitimiert, sondern ereignet.

Der Umweg über die anderen Künste

An dieser Stelle lohnt der Blick auf Stendhal, der notierte: „Es waren die anderen Künste, die mich zu schreiben lehrten.“ Dieser Satz ist mehr als biografische Anekdote – er weist einen Ausweg aus der Sackgasse des autobiografischen Schreibens.

Stendhal lernte vom Theater, von der Malerei, von der Musik. Also von Künsten, die entweder zeitbasiert sind (Theater, Musik) oder räumlich-simultan (Malerei), aber nicht primär narrativ-linear wie die Prosa. Diese Künste zwingen andere Wahrnehmungsmodi auf. Sie bieten einen Wechsel des Inputs: Statt die innere, erinnerte Welt zu befragen, wendet man sich einer äußeren, gegenwärtigen Quelle zu – einer anderen Kunstform, die selbst bereits vorverdichtete Gegenwart ist.

Die Aufgabe ist dann nicht mehr, ein Gemälde zu interpretieren oder eine Symphonie zu beschreiben, sondern ihren Eindruck im Moment der Betrachtung in Sprache zu übersetzen. Wie verformen die Farben eines Jackson Pollock das Denken jetzt? Welchen Rhythmus gibt der Groove eines Funk-Stücks den Sätzen in diesem Augenblick?

Entscheidend ist: Gerade die nicht-sprachlichen Künste eignen sich für dieses Unterfangen. Musik und abstrakte Malerei bedeuten nicht im gleichen Sinn wie Sprache. Sie erzeugen Affekt ohne Narrativ. Literatur, die auf Literatur reagiert, bleibt im Diskurs gefangen, in der Intertextualität, also wieder: in der Erinnerung an Gelesenes. Aber ein Bild, ein Klang – sie treffen das Bewusstsein ohne den Umweg über Semantik.

Der Trick ist: Durch fremde Medien den eigenen Erinnerungskatalog kurzschließen. Man kann nicht auf bewährte Muster zurückgreifen, weil die Situation neu ist. Das Schreiben wird zum Tastversuch, zur Improvisation. Und genau darin liegt die Gegenwart, die Witzel sucht.

Ein Experiment: MOMENTAUFNAHMEN

Wie ließe sich dieser theoretische Impuls in die Praxis überführen? Ein Literaturmagazin könnte eine Ausgabe schaffen, die sich dem Schreiben als reiner Gegenwart verschreibt – unter dem Titel etwa: MOMENTAUFNAHMEN – Schreiben im puren Präsens.

Das Konzept: Jeder Text ist eine Momentaufnahme. Die Autor*innen folgen einem radikalen Manifest:

Regel 1: Keine Vergangenheit
Keine persönlichen Anekdoten, keine Erinnerungen, keine Biografie. Der Text darf nicht „damals“ beginnen. Ein Satz wie „Als Kind liebte ich…“ ist verboten.

Regel 2: Keine Zukunft
Keine Pointe, keine Moral, keine Botschaft, keine Lösung. Der Text strebt auf kein Ziel hin. Er will nichts beweisen, niemandem etwas mitteilen. Er ist.

Regel 3: Reiner sensorischer Input
Der Text beginnt mit einer unmittelbaren, sinnlichen Wahrnehmung: Der Riss in der Wand. Das surrende Geräusch des Kühlschranks. Das Gewicht der Tasse in der Hand.

Regel 4: Assoziative Entfaltung im Jetzt
Von diesem Ausgangspunkt darf sich der Text assoziativ entfalten, aber er muss im „Jetzt“ der Wahrnehmung oder des Denkens bleiben. Aus „Der Riss in der Wand“ wird nicht: „…der mich an den Riss in der Decke meiner Kindheit erinnert“, sondern: „…verzweigt sich wie ein Flussdelta auf einer Landkarte, die es nicht gibt.“

Regel 5: Das Stopp-Kriterium
Der Text endet, sobald die Autor*in das Gefühl hat, eine Pointe zu machen, etwas zu verarbeiten oder die Unmittelbarkeit des Moments zu verlassen.

IV. Praktische Varianten

Das Experiment ließe sich in verschiedene Richtungen entfalten:

  • Schreiben nach Musik: Autor*innen hören ein unbekanntes Musikstück und schreiben währenddessen – ohne Pause, ohne Revision.
  • Schreiben nach Bildern: Vor einem abstrakten Bild schreiben, das keine Narrative vorgibt. Nicht über das Bild schreiben, sondern mit ihm.
  • Live-Schreiben als Performance: Schreiben vor Publikum, projiziert auf eine Leinwand – mit der Regel: Kein Zurückgehen, kein Löschen.
  • Choreografisches Schreiben: Bewegungsanweisungen befolgen und währenddessen schreiben. Der Körper als Generator von Präsenz.
  • Schreiben im Dialog mit Zufall: Ein Algorithmus gibt alle zwei Minuten ein zufälliges Wort vor. Sofortiges Weiterschreiben ist Pflicht.

V. Das produktive Scheitern

Ein ehrliches Experiment würde auch Texte publizieren, die scheitern. Texte, in denen Autor*innen merken, dass sie die Regeln brechen, und das transparent machen. Das Scheitern wäre keine Schwäche, sondern Ehrlichkeit. Es würde die Schwierigkeit des Unternehmens sichtbar machen – und zugleich zeigen, dass das Ringen darum bereits literarische Praxis ist.

VI. Autonomie des Moments

Was würde ein solches Experiment hervorbringen? Vermutlich Texte, die fragmentarisch sind, ungewöhnlich, frei von konventioneller Narrativität. Texte ohne Bogen, ohne Klimax, ohne Auflösung. Texte, die nicht verkäuflich sind im Sinne des Buchmarkts.

Aber genau darin läge ihr Wert: Sie wären ein lebendiges, kollektives Ringen um die von Witzel beschworene Autonomie des literarischen Moments. Ein Schreiben als Entstehung, nicht als Verarbeitung.

Vielleicht ist erinnerungsloses Schreiben unmöglich. Aber Schreiben, das die Erinnerung überrumpelt – das wäre ein Anfang. Und Stendhals Weg über die anderen Künste wäre die praktische Anleitung, um dieses paradoxe Unterfangen zu wagen: Nicht aus sich selbst heraus schreiben, sondern aus der Begegnung mit dem, was jetzt vor einem liegt, klingt, sich bewegt.

Das Magazin würde keine Antworten liefern. Es würde eine Frage praktizieren: Wie schreibt man, wenn man aufhört, sich zu erinnern? Und die Antwort wäre nicht theoretisch, sondern ein Stapel Texte – manche gelungen, manche gescheitert, alle aber getragen von dem Versuch, für einen Moment die Last der Vergangenheit abzulegen und einfach zu schreiben: Jetzt.

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