Was ist Dramaturgie beim Tanztheater?

In den beruflichen Profilen von Ille Chamier wird ihre dramaturgische Mitarbeit am Tanztheater Wuppertal erwähnt. Da mir diese Tätigkeit bis dahin nicht bekannt war, habe ich mich bei einer befreundeten Schauspielerin erkundigt. Folgende Informationen habe ich erhalten:

Die Rolle der Ballettdramaturgen ist komplex und ihre Definition sowie ihre Geschichte sind oft umstritten. Die Funktion reicht von der eines Mitschöpfers bis hin zu der eines Beobachters. Obwohl der Begriff „Ballettdramaturgie“ historisch nicht existierte und das Ballett lange Zeit ohne sie auskam, wird ihre Notwendigkeit heute immer stärker anerkannt, um das Ballett gegenüber Schauspiel und Oper konkurrenzfähig zu machen.

Was macht ein/e Ballettdramaturg/in überhaupt?

Ein Ballettdramaturg ist primär ein „Ideenlieferant“ und eine „Kontrollinstanz“ für den Choreographen. Er fungiert als dessen erster Diskussionspartner und als Moderator zwischen Choreograph, Librettist, Komponist und Bühnenbildner. Er oder sie sollte über geisteswissenschaftliches Allgemeinwissen, Kenntnisse der Ballettgeschichte, ein Gespür für zeitgenössische Entwicklungen, aktuelle Informationen aus allen künstlerischen Bereichen und viel Fantasie verfügen.

Zu den konkreten Aufgaben eines Dramaturgen gehören unter anderem:

  • Produktionsdramaturgie/Stückentwicklung: Dies beinhaltet die konzeptionelle Arbeit und Entwicklung neuer Produktionen.
  • Künstlerische und konzeptionelle Mitarbeit bei der Spielplanentwicklung und Rahmenformaten: In Zusammenarbeit mit dem Ballettdirektor und der Dramaturgie tragen der Dramaturgen zur strategischen Ausrichtung des Spielplans bei.
  • Dramaturgische Betreuung von Proben und Sonderveranstaltungen: Der Dramaturg begleitet den Entstehungsprozess einer Aufführung.
  • Programmheftredaktion und Erstellung von Texten für diverse Publikationen: Er verfasst Begleittexte, die dem Publikum die Stücke näherbringen.
  • Recherche von Begleitmaterial und Interpretationshilfen: Umfassende Hintergrundinformationen werden gesammelt und aufbereitet.
  • Moderation von Einführungs- und Publikumsgesprächen: Der Dramaturg fördert den Austausch zwischen Künstlern und Publikum.
  • Vorstellungsbetreuung: Auch während der Aufführungen ist der Dramaturg unterstützend tätig.

Neben der Produktionsdramaturgie ist die Gestaltung des Programm- und Repertoires eine weitere wichtige Funktion. Ein Dramaturg sollte dafür sorgen, dass der Spielplan thematisch geschlossen ist und ein individuelles Profil der Kompanie widerspiegelt, statt nur lose Aneinanderreihungen von Balletten zu präsentieren.

Historische und zeitgenössische Perspektiven auf Tanzdramaturgie:

Die Wurzeln der Theatertradition, die die Dramaturgie beeinflusste, reichen von Aristoteles‘ „Poetik“ über Gotthold Ephraim Lessings „Hamburgische Dramaturgie“ bis hin zur Zusammenarbeit von Bertolt Brecht mit seinen Dramaturgenkollegen.

Im Hinblick auf ein historisches Verständnis der Tanzdramaturgie wird oft die Partnerschaft zwischen Pina Bausch und Raimund Hoghe Mitte der 1990er Jahre als zentrale Zusammenarbeit zwischen einer Choreografin und einem Tanzdramaturgen genannt. Horst Koegler bemerkte bereits 1976, dass Pina Bausch in Wuppertal keine Initiativen zur Schaffung einer Dramaturgenstelle gezeigt hatte, ihr Dramaturg Edmund Gleede ihr sozusagen „in den Schoß gefallen“ sei. Laut Koegler war der Wuppertaler Strawinsky-Ballettabend „Frühlingsopfer“ dank Gleedes Mitwirkung der einzige in Bauschs dreijähriger Tätigkeit, der ein geschlossenes dramaturgisches Konzept hatte.

Der Gründer der Ballets Russes, Sergej Pawlowitsch Diaghilew, wird als Beispiel für einen idealen Ballettdramaturgen angeführt, der als „unermüdlicher Anreger“ dem Choreographen ständig neue Vorschläge machte. Zeitgenössische Choreographen wie John Neumeier in Hamburg praktizieren ihre Ballettdramaturgie oft selbst, während Hans van Manen als vorzüglicher Dramaturg gilt, dessen Stücke sich durch eine klare und einleuchtende Dramaturgie auszeichnen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Tanzdramaturgie eine entscheidende Rolle bei der intellektuellen und künstlerischen Entwicklung des Balletts spielt und ihm hilft, sein volles Potenzial zu entfalten.

Informationen zu den erwähnten Personen


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