Beim ersten Lesen von Klaus Johannes Thies Text „Im Schwimmbad mit Derrida“ stellt sich eine eigentümliche Ratlosigkeit ein. Was ist das? Ein Traumbericht? Eine philosophische Reflexion? Eine Alltagsbeobachtung? Der Text entzieht sich jeder eindeutigen Zuordnung – und genau darin liegt sein Geheimnis. Denn Thies schreibt nicht über Derridas Dekonstruktivismus, er vollzieht ihn.
Das Verschwimmen der Grenzen
Der Text beginnt mit einer unmöglichen Szene: ein Wettkampf mit dem längst verstorbenen Philosophen Jacques Derrida im Schwimmbad. Sofort verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit („Das Bett war nass“), zwischen Leben und Tod, zwischen möglich und unmöglich. Diese Auflösung binärer Oppositionen ist ein Kernprinzip der Dekonstruktion. Thies zeigt: Die Kategorien, mit denen wir Wirklichkeit ordnen wollen, sind durchlässiger als gedacht.
Die Unmöglichkeit von Präsenz
Mitten im Text kommt der entscheidende Moment: „Wie schade, dass es ihn jetzt nicht mehr gab. Ich musste etwas anderes erfinden, das jetzt zu gleicher Zeit mit mir in diesem Schwimmbad existierte.“ Hier wird sichtbar, was Derrida différance nannte – die permanente Verschiebung von Bedeutung und Präsenz. Derrida ist abwesend, aber gerade durch seine Abwesenheit im Text präsent. Der Erzähler erkennt, dass er einen Ersatz braucht, ein Supplement – aber dieser Ersatz wird selbst Teil des Spiels von Anwesenheit und Abwesenheit.
Intertextuelle Verweise
Derrida spricht im Schwimmbad „über Glas und über Postkarten“ – eine subtile Anspielung auf seine eigenen Werke Glas und Die Postkarte. Der Text verweist auf sich selbst als Text, als Konstruktion. Er macht transparent, dass er nicht einfach etwas „abbildet“, sondern selbst Teil eines Netzes von Verweisen ist.
Schwimmen statt Lesen
„Wir schwammen also, was einfacher ist, als seine schwierigen Bücher zu lesen.“ Hier etabliert Thies eine scheinbare Hierarchie: Schwimmen als Ersatz für das intellektuell anspruchsvolle Lesen. Doch der Text behandelt beides gleichwertig – das körperliche Schwimmen wird zur philosophischen Praxis. Das Supplement (Schwimmen) ist nicht weniger wert als das Original (Lesen), es erweitert und verschiebt es nur.
Die permanente Aufschiebung
Der Text kommt nie zum Punkt. Ständig gibt es Einschübe, Unterbrechungen: „Ein paar Sätze noch (bis zu den Nachrichten), ein wenig Chopin, oder schnell noch mal die Zähne putzen…“ Diese Struktur der permanenten Verschiebung, des Nie-Ankommens, ist selbst dekonstruktivistisch. Der Text entzieht sich dem Abschluss, der endgültigen Bedeutung. „Dabei hätte ich so viel noch zu erzählen, so viel“ – aber dieses „Viel“ bleibt aufgeschoben, verschoben, different.
Philosophie als literarische Praxis
Klaus Johannes Thies macht Dekonstruktion lesbar, ohne sie zu erklären. Der Text spricht nicht über Derridas Philosophie, er lässt sie geschehen. Für Leser, die mit Derrida nicht vertraut sind, mag der Text zunächst verwirrend wirken – doch gerade diese Verwirrung, dieses Schwimmen zwischen den Kategorien, ist der Punkt. Der Autor zeigt: Philosophie muss nicht abstrakt bleiben, sie kann sich in der konkreten Sprache, im Traumprotokoll, im Alltäglichen ereignen.
Der Text ist für mich ein kleines Meisterwerk der literarischen Philosophie – oder der philosophischen Literatur. Die Grenze ist ohnehin nicht mehr zu ziehen.
„Im Schwimmbad mit Derrida“ ist erschienen in Unsichtbare Übungen.
Titelfoto: Tiffany Bernarte
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