„Unter jedem Mantel schlägt ein Herz – mantelvertraut sind wir, wenn wir dessen Rhythmus erkennen, ohne den Stoff berühren zu müssen.“
Eine Meditation über Vertrauen, Verhüllung und Vertrautheit
I. Das Wort als Geheimnis
Mantelvertraut – ein Wort, das sich wie ein schwerer Wintermantel um seine Bedeutung legt. Ist es die Vertrautheit mit dem Mantel selbst, diesem treuen Begleiter durch kalte Jahreszeiten? Oder beschreibt es jene besondere Art der Vertrautheit, die nur unter dem schützenden Saum eines geteilten Mantels entstehen kann?
In der deutschen Sprache verstecken sich oft ganze Geschichten in zusammengesetzten Wörtern. Mantelvertraut könnte bedeuten:
Mit jemandem so vertraut sein wie mit dem eigenen Mantel
Vertrauen, das sich unter dem Schutz verhüllender Kleidung entwickelt
Die intime Kenntnis dessen, was verborgen bleibt
II. Gogolsche Schatten
Akakij Akakijewitsch hätte dieses Wort verstanden. In Gogols „Der Mantel“ wird ein schäbiger Überrock zum Mittelpunkt eines ganzen Lebens, zur Quelle von Träumen und schließlich zum Symbol verlorener Würde. Mantelvertraut wäre er gewesen mit seinem alten, durchlöcherten Gefährten, bevor der neue Mantel sein Schicksal besiegelte.
Doch was, wenn mantelvertraut auch die Beziehung zwischen Autor und Leser beschreibt? Jene Intimität, die entsteht, wenn wir unter dem Mantel der Geschichte miteinander warm werden, geschützt vor der Kälte der Realität?
III. Moderne Verhüllungen
In unserer Zeit der ständigen Sichtbarkeit wird mantelvertraut zu einem Luxus. Wann sind wir heute noch verhüllt, geschützt, unbeobachtet? Social Media hat uns alle entmantelt, unsere Profile sind durchsichtige Regenjacken geworden.
Mantelvertraut – das wären heute vielleicht:
Die letzten WhatsApp-Nachrichten vor dem Schlafengehen
Gespräche im Auto bei Regen, wenn die Scheiben beschlagen
Die Gedanken, die wir nur mit geschlossenen Augen denken
IV. Mantelvertraute Verse
Mantelvertraut ist,
wenn Schweigen zwischen uns
wärmer wird als Worte.
Mantelvertraut bedeutet:
Ich kenne die Form deiner Schultern
unter dem Wollstoff,
auch wenn ich sie nie berührt habe.
Mantelvertraut ist die Gewissheit,
dass manche Geheimnisse
nur im Schutz der Verhüllung
ihr wahres Gesicht zeigen.
V. Epilog: Die Philosophie des Mantels
Ein Mantel ist immer zweideutig: Er verbirgt und schützt zugleich. Er grenzt ab und umhüllt. Er macht uns unkenntlich und doch unverwechselbar – denn wer erkennt uns nicht an unserem Gang, auch wenn das Gesicht im Schatten der Kapuze liegt?
Mantelvertraut zu sein bedeutet vielleicht, diese Zweideutigkeit zu verstehen und zu akzeptieren. Es ist das Vertrauen in das Verborgene, die Intimität des Nicht-ganz-Sichtbaren.
In einer Welt, die alles ausleuchten will, bleibt mantelvertraut ein Wort für die Schatten, für die geschützten Räume, für jene seltenen Momente, in denen Nähe nicht durch Entblößung, sondern durch gemeinsame Verhüllung entsteht.
-
mantelvetraut
2 Minuten„Unter jedem Mantel schlägt ein Herz – mantelvertraut sind wir, wenn wir dessen Rhythmus erkennen, ohne den Stoff berühren zu müssen.“ Eine Meditation über Vertrauen, Verhüllung und Vertrautheit I. Das Wort als Geheimnis Mantelvertraut – ein Wort, das sich wie ein schwerer Wintermantel um seine Bedeutung legt. Ist es die Vertrautheit mit dem Mantel selbst,…
-
Die Gedanken sind frei
4 MinutenDie Gedanken sind frei – ein Lied, das zu oft als Beruhigungspille missbraucht wurde. Während Diktaturen Menschen einsperrten, sangen diese von ihrer inneren Freiheit, statt die äußeren Ketten zu sprengen. Diese Ambivalenz macht das Lied gefährlich und kraftvoll zugleich. Die Unzerstörbarkeit als Problem Das Lied verkörpert eine jahrhundertealte Idee: die Unzerstörbarkeit der Gedanken- und Gewissensfreiheit.…
-
Safiye Can – Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung
2 MinutenDas Gedicht im Wortlaut (gekürzt):„Frauen / kauft von Frauen / lest von Frauen // […] / bildet eine Faust / werdet laut! // […] / Die Welt muss lila werden.“ Entnommen dem Lyrikband Poesie und PANDEMIE von Safiya Can | Wallstein Verlag 2021 Was steht da?Die Autorin richtet sich in direkter Ansprache an Frauen. In…
-
Lessings Emilia Galotti
4 MinutenStellen Sie sich vor, Sie reisen zurück ins Jahr 1772. Perücken zählen zur vorherrschenden Mode, Kutschen sind das vorrangige Fortbewegungsmittel, und in den Salons wird leidenschaftlich über Vernunft und Macht debattiert. Mitten in dieser Epoche des geistigen Umbruchs – der Aufklärung – verfasst Gotthold Ephraim Lessing ein Drama, das die zeitgenössische Gesellschaft wie ein Spiegelbild…
-
Dies Sirren – Adolf Endler im Gespräch mit Renatus Deckert
2 MinutenLektüreNotizen | Eingeleitet ist dieser Gesprächsband mit dem Abdruck einer handschriftlichen Version seines titelgebenden Gedichts aus dem Jahre 1971: Dies SirrenUnd wieder dies Sirren am Abend. Es gilt ihnen scheint es für SingenIch boxe den Fensterladen auf und rufe He laßt mich nicht ratenIhr seid es Liliputaner das greise Zwergenpaar van der KlompenCui bono ihr…
-
Ille Chamier – Am Tag, als ich hinfuhr, zum Treffen schreibender Frauen…
Die Erzählung „Am Tag, als ich hinfuhr, zum Treffen schreibender Frauen…“ (erschienen in Courage – Berliner Frauenzeitung, Juli 1979) offenbart scharfe gesellschaftskritische und feministische Positionen: Die Last der unsichtbaren Arbeit Ille Chamier beschreibt minutiös, wie Care-Arbeit (Kinderbetreuung, Haushalt) ihr Schreiben behindert. Bevor sie zum Frauentreffen aufbrechen kann, muss sie ein komplexes Netz aus Versorgungsaufgaben organisieren:…
-
Ich erinnere mich – Joe Brainard
2 MinutenJoe Brainards Ich erinnere mich ist ein literarisches Kaleidoskop aus Erinnerungen, das 1970 in den USA erschien und 2011 erstmals auf Deutsch veröffentlicht wurde. Das Buch besteht aus über 1.000 kurzen, assoziativen Notizen, die alle mit den Worten „Ich erinnere mich“ beginnen. Brainard, ein vielseitiger Künstler der New Yorker Avantgarde-Szene, schuf damit ein Werk zwischen…
-
Einzeltäter – Gedicht von Safiye Can
Das Gedicht „Einzeltäter“ nutzt die intensive Wiederholung des Titelmotivs, um eine vielschichtige Deutungsebene zu eröffnen. Hier eine Analyse der zentralen Aspekte: Form und Struktur Wiederholung als Stilmittel: Die ständige Wiederholung von „Einzeltäter“ und Phrasen wie „noch ein“ oder „nur ein“ erzeugt eine rhythmische Monotonie. Dies spiegelt möglicherweise die endlose Wiederkehr des Phänomens oder die gesellschaftliche…
-
Kurt Schumacher – Fallender
7 MinutenDer Bildhauer Kurt Schumacher (1905-1942) schuf eine männliche Figur im Moment des Falls. (Im Stil des Expressionismus?) aufgerichtet und die Arme emporreißend, zeigt die Skulptur eine tiefe Wunde in Herzhöhe. Aus ihr strömt Blut, das sich wie ein stilisiertes Gewand um die Hüften legt, die Scham des nackten Körpers bedeckt und an den Beinen hinunterfließt.…
-
Stephen Crane – In the desert
5 MinutenÜber ein Gedicht, über Ausgrenzung. Dieser 1895 erstmalig veröffentlichte Text hat dazu geführt, dass mir von Gott berufenen Menschen (nach eigenen Aussagen) die Freundschaft gekündigt haben und seitdem jeden Kontakt ablehnen. Ihr Kommentar: Wer so etwas veröffentlicht, der ist vom Teufel geleitet. In the desertI saw a creature, naked, bestial, Who, squatting upon the ground, Held his…
-
Loulou Omer – EINS UND NOCH EINS
3 MinutenLoulou Omers Gedicht „EINS UND NOCH EINS“ aus dem Band Was es bedeuten soll. Neue hebräische Gedichte in Deutschland (parasitenpresse 2019, S.100) verbindet introspektive Reflexion mit metaphorischer Sprache, um zentrale Themen wie Identität, menschliche Verbindungen und die Suche nach Authentizität zu erkunden. Formal bricht das Gedicht mit Konventionen: Auf den mathematisch-nüchternen Titel, der Wiederholung oder…
-
Renatus Deckert – Plötzensee
3 MinutenDas Gedicht beschreibt den Besuch eines Ortes, der als Hinrichtungsstätte diente. Der Raum wird sachlich geschildert: Unter der Decke sind Haken und ein schwarzer Balken sichtbar. Die kahlen, grauen Wände umschließen eine leere Stille, in die man vorsichtig hineintritt. Diese Stille wird als drückend beschrieben – wie Steine auf der Zunge oder ein einhüllender Rauch.…
Schreibe einen Kommentar