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  • Esther Kinsky – Hain. Ein Geländeroman

    Esther Kinsky – Hain. Ein Geländeroman

    Esther Kinskys Roman Hain. Ein Geländeroman erschien 2018 im Suhrkamp Verlag und wurde seitdem vielfach besprochen und mit Literaturpreisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Das Buch entzieht sich einfachen Gattungszuschreibungen; es lässt sich schwer einordnen – irgendwo zwischen autobiografisch grundierter Reiseerzählung, poetischer Prosa und kulturreflexivem Erzählen. Es ist autobiografisch grundiert, aber kein klassischer autobiografischer Text; es handelt von Reisen, ist aber kein Reisebuch im herkömmlichen Sinne; es reflektiert über Sprache, Natur, Erinnerung und Tod, ohne eine lineare Handlung zu verfolgen. Stattdessen lässt sich Hain als poetisch durchwirkter Erzählraum begreifen – ein literarisches Gelände, das durchquert und erkundet wird. Das Buch beschreibt drei Aufenthalte in Italien, die durchzogen sind von Erinnerungen, Beobachtungen und Reflexionen über Sprache, Landschaft und Verlust.

    Inhalt und Struktur

    Im Zentrum steht eine namenlose Ich-Erzählerin, die nach Italien reist – nicht auf der Suche nach den klassischen Sehenswürdigkeiten oder der malerischen Postkartenidylle, sondern auf der Suche nach Zwischenräumen. Sie hält sich in drei verschiedenen Gegenden auf: zunächst in Olevano Romano östlich von Rom, eine Kleinstadt, die schon in der Kunstgeschichte als Rückzugsort für deutsche Landschaftsmaler im 19. Jahrhundert bekannt war; später in Chioggia südlich von Venedig; schließlich in Comacchio am Rand des Po-Deltas sowie der Polesine-Region im Nordosten und dem südlichen Apulien. Die Landschaften, Städte und Begegnungen vor Ort dienen als Resonanzräume für persönliche Erinnerungen, insbesondere an den Tod eines nahestehenden Menschen, genauer ihres Vaters. Die Landschaften, Begegnungen und alltäglichen Beobachtungen bilden das narrative Gewebe, in das Erinnerungen an den Vater und frühere Reisen eingesponnen sind. Immer wieder tauchen Motive des Übergangs, der Schwellen und der „Zwischenräume“ auf – in topografischer wie auch in existenzieller Hinsicht.

    Geländeroman

    Der Untertitel „Ein Geländeroman“ spielt dabei auf den Begriff des „Geländes“ an – nicht im Sinne eines Abenteuers, sondern als Versuch, sich über das Gehen, Sehen und Erinnern ein inneres Gelände zu erschließen. Der Begriff ist ungewöhnlich und verweist auf ein zentrales Motiv des Buches: das Umhergehen, das Unterwegssein, das sich dem Gelände Aussetzen. Es geht um ein Gehen in Sprache, Erinnerung und Landschaft – ähnlich wie bei W. G. Sebald, mit dem Kinskys Werk häufiger in Verbindung gebracht wird. Der Text ist dabei durchzogen von poetischen, fast meditativen Beschreibungen: von Friedhöfen, verwilderten Gärten, Straßenhunden, Zugfahrten und Geräuschen. Es handelt sich dabei nicht um einen klassischen Roman mit Handlung, sondern eher um eine literarische Erkundung in essayistisch-poetischer Form.

    Die Autorin Esther Kinsky

    Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen (NRW) geboren. Sie lebt als Schriftstellerin, Übersetzerin und Lyrikerin in Deutschland und England. Ihre literarische Arbeit ist vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Erich-Fried-Preis und dem Kleist-Preis. Ihr Werk ist stark geprägt von Mehrsprachigkeit, Naturwahrnehmung und Grenzräumen – sowohl geografisch als auch sprachlich und existenziell. Kinsky lebte viele Jahre in London und übersetzte unter anderem Werke von Iossif Brodsky, Olga Tokarczuk, John Burnside, Henry David Thoreau, John Clare und zuletzt J. O. Morgan ins Deutsche. Auch ihre eigene Prosa und Lyrik ist stark von poetischen und sprachreflektierenden Verfahren geprägt. Neben ihrer Prosa hat Kinsky auch Lyrik veröffentlicht, etwa den Band Schiefern (2016), der ebenfalls von Naturbeobachtung und dem Vergehen der Zeit durchzogen ist. Ihre Bücher sind für ihren präzisen, beinahe fotografisch feinen Stil bekannt. Kinsky nähert sich den Dingen in ihrer eigenen Zeit – bedächtig, vielschichtig, oft mit einem ethnografischen Blick.

    Über das Verhältnis von Landschaft und Sprache sagte Kinsky in einem Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur: „Ich habe mich schon immer für die Landschaft als eine Form von Text interessiert. Das Gelände, durch das man sich bewegt, ist ein Erzählraum – und ein Raum, in dem Erinnerung abgelagert ist.“ In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Kinsky einmal: „Ich bin keine Schriftstellerin, die sich an Erzählfäden entlangschreibt. Mich interessieren eher die Leerstellen, das, was man nicht sagen kann.“ Dieser Satz charakterisiert auch Hain treffend, in dem das Schweigen, das Verschwiegene und das Nicht-mehr-Vorhandene immer wieder in den Vordergrund rücken. Ihr Schreiben ist stark geprägt von einem beobachtenden, zurückgenommenen Erzählen. Es geht weniger um Handlung als um Wahrnehmung. In einem Porträt der Süddeutschen Zeitung hieß es: „Kinsky schreibt gegen das Sprechen an, das alles einhegen, erklären, benennen will – sie hört den Dingen zu, statt sie zu beherrschen.“

    Entstehung und Hintergründe

    Hain entstand nach dem Tod von Kinskys Lebensgefährten, dem englischen Schriftsteller und Übersetzer Martin Chalmers, der 2014 starb. Obwohl das Buch keine explizite Trauerliteratur ist, durchzieht das Thema Verlust den gesamten Text. Der Tod ist nicht Mittelpunkt, sondern Echo – das im Gelände widerhallt. Der Roman ist daher auch ein Trauerbuch – aber kein intimes Bekenntnis, sondern ein literarisch gestalteter Rückzugsraum. Die Reisen nach Italien bilden eine Art Zwischenzustand, ein Schweben zwischen Orten, Sprachen und Zeiten. In einem Interview mit der FAZ sagte Kinsky über das Buch: „Ich habe nichts verarbeitet – ich habe etwas erzählt. Schreiben ist nicht Therapie, sondern Wahrnehmung.“ Die Wahl Italiens als Schauplatz hat mehrere Gründe: Kinsky verbrachte als junge Frau viel Zeit dort, spricht Italienisch und kennt viele der beschriebenen Orte aus früheren Reisen. In der Rückkehr dorthin liegt eine Bewegung in die Vergangenheit, aber auch ein Versuch, die Gegenwart zu verorten. Es handelt sich um ein leises, tastendes Schreiben, das weniger verarbeiten als verstehen will.

    Rezeption und Auszeichnungen

    Hain wurde 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse (Kategorie Belletristik) ausgezeichnet. In der Begründung der Jury hieß es: „Esther Kinsky hat ein Werk von großer poetischer Kraft und existenzieller Tiefe geschrieben, das sich jeder einfachen Einordnung entzieht.“ Auch die Kritiker würdigten das Buch als Grenzgänger zwischen den Gattungen – nicht zuletzt aufgrund seiner formalen Eigenwilligkeit, der offenen Struktur und der sprachlichen Dichte.

    Stilistische Eigenheiten

    Der Text ist durchzogen von mehrsprachigen Elementen, Zitaten aus alten Reiseführern und literarischen Anspielungen. Immer wieder steht die Frage im Raum, was es bedeutet, fremd zu sein – in einer Sprache, in einem Land, in der eigenen Erinnerung. Kinsky arbeitet dabei häufig mit Kontrasten: zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Erinnerung und Beobachtung. Auch das Layout – kurze Absätze, Leerstellen, Einschübe – unterstützt diesen fragmentarischen, tastenden Stil. Das Buch verzichtet weitgehend auf Dialoge und klassische Handlungselemente. Es ist durchsetzt mit Reflexionen über das Verhältnis von Sprache, Erinnerung und Natur. Zahlreiche literarische, kulturgeschichtliche und historische Verweise durchziehen den Text – subtil und oft beiläufig. Der Erzählton ist durchgängig ruhig, zurückgenommen, beinahe kontemplativ.

    Fazit

    Hain. Ein Geländeroman ist kein Buch im klassischen Sinne einer Geschichte mit Anfang, Höhepunkt und Ende. Vielmehr ist es ein feingliedriges, sprachlich präzises und vielschichtiges Werk über das Gehen, Sehen, Erinnern und Schweigen, das sich den einfachen Kategorien entzieht. Es stellt Fragen, ohne Antworten zu liefern – und ist damit selbst ein Gelände, durch das man sich langsam bewegt, tastend, beobachtend. Esther Kinsky eröffnet damit einen Raum für das literarische Durchqueren von Landschaft und Verlust, Sprache und Erinnerung – ein Gelände, das von der Leserin oder dem Leser selbst betreten werden will.

  • Kein Einzelfall

    Kein Einzelfall

    Bezug nehmend auf das Gedicht Einzeltäter von Safiye Can versuche ich mich in einer kritischen Reflexion das Originalgedicht in konkrete Handlungsimpulse zu übersetzen – weg von Ohnmacht hin zu Empowerment. Hier ein Vorschlag, wie sich Fragestellungen und Aktionsmöglichkeiten ableiten lassen:

    Fragestellungen für den Einzelnen

    Warnzeichen erkennen:
    „Sehe ich die ‚Risse in der Wand‘ – also Drohungen, Gewaltfantasien oder Machtmissbrauch in meinem Umfeld?
    „Wann habe ich etwas bewusst ignoriert, weil es unbequem war?“

    Schweigen brechen:
    „Wem vertraue ich mich an, wenn ich Unsicherheit spüre? Könnte mein Schweigen Täter:innen schützen?“
    „Wie reagiere ich, wenn jemand sagt: ‚Das ist doch nur ein Einzelfall‘?“

    Systeme hinterfragen:
    „Welche Institutionen (Polizei, Schule, Arbeitsplatz) haben Mechanismen, um Gewalt früh zu stoppen? Nutze ich sie?“
    „Unterstütze ich Initiativen, die strukturelle Prävention fördern – z. B. Frauenhäuser, Antidiskriminierungsstellen?“

    Eigenes Handeln reflektieren:
    „Bin ich Teil des Problems, wenn ich wegsehe – oder Teil der Lösung, wenn ich zuhöre und handele?“
    „Wie kann ich Betroffenen signalisieren: Ich glaube dir – selbst wenn das System sie im Stich lässt?“


    Ein Gedicht als Handlungsappell

    „Kein Einzelfall“

    Du siehst das Grau,
    du hörst den Schrei –
    ein Atemzug
    zwischen Vielleicht und Jetzt.

    Frag die Wand nach ihren Rissen,
    frag das Schweigen nach dem Grund.
    Ein Formular ist kein Schutz –
    doch deine Stimme kann es sein.

    Nimm den Stift,
    der keine Antworten erfindet,
    sondern Fragen stellt:
    Warum?
    Wer sah es?
    Wer schaute weg?

    Es gibt kein Unvorhersehbar
    nur Augen, die sich weigern,
    zu sehen.

    Was ich vermitteln möchte:

    Vom Passiven zum Aktivem: Die Zeilen „ein Atemzug / zwischen Vielleicht und Jetzt“ betonen den Moment der Entscheidung: Handeln oder Schweigen.

    Konkrete Schritte: „Frag die Wand“ / „Nimm den Stift“ – Metaphern für proaktives Hinterfragen und Dokumentieren.

    Kollektive Verantwortung: Das „du“ wird zum Akteur, der Systeme durch kleine Taten unterläuft (z. B. Betroffene unterstützen, Vorfälle melden).


    Macht das Sinn?:
    Das Originalgedicht entlarvt die Illusion, Einzeltäter seien isolierte Phänomene. Die Ableitung von Handlungsfragen zeigt: Prävention beginnt im Kleinen – beim Wahrnehmen von Warnsignalen, beim Infragestellen von Plattitüden („Einzelfall“) und beim Nutzen vorhandener Strukturen. Jede und jeder Einzelne kann ein „Riss“ im Schweigen sein, der verhindert, dass Täter, Täterinnen ungestört agieren.

  • Blindstellen | Blind stellen?

    Blindstellen | Blind stellen?

    Um das Gedicht Einzeltäter von Safiye Can zu erfassen; hier ein Versuch eigene Worte mit einem veränderten Fokus zu finden:

    „Blindstellen“

    Der Einzeltäter trägt Grau,
    der Einzeltäter trägt Wut,
    der Einzeltäter trägt ein Lächeln –
    und niemand sieht die Risse
    in der Wand, wo die Drohung stand.

    „Ein Streit, kein Mord“, sagt das Protokoll.
    „Ein Einzelfall“, schreibt die Zeitung klein.
    „Das System funktioniert“, sagt die Statistik –
    während die Täter zählen: Eins. Noch eins.

    Die Nachbarin hörte Schreie,
    doch Schweigen ist leichter als Helfen.
    Der Kollege sah die Akten schwinden,
    doch Schweigen ist Karriere.
    Die Mutter fand die Messerklinge,
    doch Schweigen ist Hoffnung:
    Vielleicht doch nicht.

    Am Ende bleibt ein Formular,
    das nach dem Warum? fragt –
    und eine Spalte für Antworten,
    die niemand ausfüllt.
    Am Ende bleibt ein Grab,
    auf dem steht: „Unvorhersehbar.“
    Am Ende bleibt ein System,
    das sich selbst lobt:
    „Wir hatten keinen Grund,
    zu handeln.“


  • Einzeltäter – Gedicht von Safiye Can

    Einzeltäter – Gedicht von Safiye Can

    Das Gedicht „Einzeltäter“ nutzt die intensive Wiederholung des Titelmotivs, um eine vielschichtige Deutungsebene zu eröffnen. Hier eine Analyse der zentralen Aspekte:

    Form und Struktur

    Wiederholung als Stilmittel: Die ständige Wiederholung von „Einzeltäter“ und Phrasen wie „noch ein“ oder „nur ein“ erzeugt eine rhythmische Monotonie. Dies spiegelt möglicherweise die endlose Wiederkehr des Phänomens oder die gesellschaftliche Fixierung auf den Begriff wider.

    Fragmentarische Kürze: Die kurzen, abgehackten Zeilen erinnern an ein Mantra oder eine Litanei, was die Unerbittlichkeit des Themas unterstreicht. Die Struktur wirkt absichtlich unvollendet, als könne die Aufzählung ewig weitergehen.


    Thematische Deutung

    Illusion der Lösung:
    Die Zeilen „nur einer noch / wirklich / dann wird alles / wieder gut“ suggerieren eine naive Hoffnung, dass mit dem letzten „Einzeltäter“ alle Probleme gelöst seien. Doch die ständige Wiederholung von „noch ein“ entlarvt dies als Trugschluss – die Ursachen liegen tiefer, neue Täter entstehen immer wieder.

    Gesellschaftskritik:
    Der Begriff „Einzeltäter“ ist oft mit medialen Narrativen verknüpft, die komplexe soziale oder politische Probleme individualisieren. Das Gedicht könnte diese Vereinfachung kritisieren: Indem jede Tat als isoliert dargestellt wird, werden systemische Missstände unsichtbar gemacht.

    Vereinsamung und Kollektiv:
    Obwohl jeder Täter „allein“ handelt, bildet ihre Häufung paradoxerweise ein Kollektiv. Die Wiederholung unterstreicht, dass Einzeltaten Teil eines größeren Musters sein können – eine Ambivalenz zwischen Individualität und Massenphänomen.

    Ironie und Verzweiflung:
    Der scheinbar optimistische Schluss „dann wird alles / wieder gut“ wirkt ironisch, da die vorangehende Aufzählung keine Lösung, sondern eine Endlosschleife darstellt. Es bleibt offen, ob die Hoffnung naiv oder zynisch gemeint ist.


    Sprachliche Besonderheiten

    Aneinanderreihung/Parataxe: Die Reihung gleichwertiger Sätze ohne logische Verknüpfung („und noch ein“, „noch ein“) verstärkt den Eindruck von Beliebigkeit und Überforderung.

    Bruch im Schluss: Die abrupte Zeilenwende „und noch ein aller / letzter Einzeltäter“ untergräbt die finale Behauptung – der „letzte“ ist nie wirklich der Letzte.


    Meine Lesart

    Das Gedicht stellt infrage, warum wir bei Problemen immer nur auf Einzelpersonen zeigen. Es sagt: Wenn wir immer nur „noch einen Einzeltäter“ suchen, vergessen wir die wahren Ursachen – wie Fehler im System oder in der Gesellschaft. Die ständige Wiederholung von „noch ein Einzeltäter“ wirkt wie ein Teufelskreis: Solange wir nicht die tieferen Gründe angehen, kommen immer neue Täter nach. Der Schluss „dann wird alles wieder gut“ klingt deshalb wie Hohn – denn das Gedicht zeigt gerade, dass es nie aufhört, wenn wir nichts ändern.

  • Eva Mutter – Illustration

    Eva Mutter – Illustration

    Eva Mutter ist eine erfahrene Grafikdesignerin und Illustratorin mit einem besonderen Fokus auf die Gestaltung von Buchumschlägen und -Innengestaltungen. Seit über 28 Jahren ist sie in der Branche tätig und hat sich mit ihrem Gespür für Ästhetik und Detailgenauigkeit einen Namen gemacht. Sie lebt und arbeitet in Barcelona und zählt namhafte Verlage wie Tusquets, Salvat, RBA, Paidos, Booket, Edicions 62, Océano und Random House UK zu ihren Kunden.

    Von 1993 bis 2014 war Eva Mutter als Senior Graphic Designerin für Círculo de Lectores tätig, bevor sie von 2015 bis 2019 in derselben Position für den renommierten Verlag Planeta arbeitete. Seit 2019 ist sie als freiberufliche Grafikdesignerin aktiv und bietet ihre Dienste weltweit an. Zu ihrem Leistungsspektrum gehören nicht nur die Gestaltung von Buchcovern, sondern auch die Innengestaltung von Büchern, die Entwicklung visueller Konzepte für Buchreihen sowie die Erstellung maßgeschneiderter Illustrationen.

    Ihr Designstil zeichnet sich durch eine klare und moderne Ästhetik aus, die sie gezielt an die Zielgruppe und den Inhalt des jeweiligen Buches anpasst. Ihre Arbeiten umfassen eine breite Palette von Genres, wobei sie darauf achtet, dass jedes Design die Essenz des Buches widerspiegelt. Besonders in der Gestaltung von Buchreihen legt sie Wert auf Kohärenz und Wiedererkennbarkeit. Durch konsistente Gestaltungselemente schafft sie visuelle Einheitlichkeit, setzt aber dennoch individuelle Akzente, um die Einzigartigkeit jedes Bandes zu betonen.

    Eva Mutter integriert oft speziell für das jeweilige Projekt erstellte Illustrationen und Fotografien in ihre Designs, die entweder von ihr selbst stammen oder in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern entstehen. Diese Herangehensweise verleiht ihren Buchgestaltungen eine besondere Tiefe und Authentizität. Ihre Arbeiten wurden für ihre gestalterische Qualität anerkannt, unter anderem mit dem FAD Bronze Laus Award 2017.

    Besonders in der Kinder- und Jugendliteratur hat sie mit Projekten wie den illustrierten Ausgaben von „Charlie und die Schokoladenfabrik“ und „Mary Poppins“ für Círculo de Lectores Aufmerksamkeit erregt. Auch die Gestaltung der Jo-Nesbø-Kollektion gehört zu ihren bemerkenswerten Projekten.

    Eva Mutter gestaltete den Umschlag und die Kapitelbilder im Lyrikerband Poeesie und PANDEMIE von Safiye Can.

    Eva Mutter hat den Umschlag des Gedichtbandes Poesie und PANDEMIE der Autorin  Safiye Can gestaltet. – Web: evamutter.com – Dort finden sich zahlreiche Beispiele ihrer Buchgestaltungen.

  • Robert Crawford

    Robert Crawford

    Robert Crawford – Dichter zwischen Tradition und Innovation

    Robert Crawford FRSE FBA (*1959) ist ein schottischer Dichter, Literaturwissenschaftler und Kritiker, dessen Werk sich durch die Verbindung von kultureller Identität, Sprache und Moderne auszeichnet. Geboren in Bellshill und aufgewachsen in Cambuslang, studierte er an der University of Glasgow und promovierte an der University of Oxford. Heute lehrt er als Professor für Englische Literatur an der University of St Andrews.

    Crawford gilt als ein bedeutender Vertreter der schottischen Literatur, dessen Lyrik klassische und experimentelle Elemente vereint. Seine Gedichte sind oft von einem Spiel mit sprachlichen Konventionen geprägt, wie auch in seiner Sammlung Spirit Machines (1999) sichtbar wird. Ein bemerkenswertes Beispiel daraus ist „A Life Exam“, ein Gedicht, das in Form einer Prüfungsaufgabe 71 Fragen und Imperative stellt. Darunter findet sich etwa die Aufforderung: „Knit together the plates of your skull correctly.“ („Stricken Sie die Platten Ihres Schädels korrekt zusammen.“). Mit dieser unkonventionellen Herangehensweise hinterfragt Crawford Muster des Denkens und Prüfens und regt dazu an, über Normen und die eigene Existenz zu reflektieren.

    Neben seiner Dichtung hat Crawford bedeutende literaturwissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Besonders hervorzuheben ist seine Biografie über T. S. Eliot, Young Eliot: From St. Louis to The Waste Land (2015), in der er neue Einblicke in das frühe Leben des Modernisten bietet. Zudem hat er sich intensiv mit schottischer Literaturgeschichte, der Verbindung von Poesie und Wissenschaft sowie der Rolle der Sprache in der modernen Welt auseinandergesetzt.

    Als Mitglied der Royal Society of Edinburgh (FRSE) und der British Academy (FBA) hat Crawford die Erforschung schottischer Literatur maßgeblich beeinflusst. Mit seiner Kombination aus wissenschaftlicher Analyse und poetischer Innovation bleibt er eine zentrale Figur der zeitgenössischen britischen Literatur.

  • A life exam – Robert Crawford

    A life exam – Robert Crawford

    Das Gedicht „A Life-Exam“ präsentiert eine surreale, satirische Prüfung des Lebens, die Absurdität, existenzielle Ängste, kulturelle Erwartungen und menschliche Zerbrechlichkeit vermischt. Die 71 Fragen parodieren akademische Tests, religiöse Gebote, medizinische Anweisungen und bürokratische Formulare, während sie Themen wie Liebe, Tod, Identität, Technologie, Spiritualität und gesellschaftliche Normen aufgreifen. Die Aufgaben reichen von trivial („Koch Mittagessen“, Frage 32) bis existenziell („Stirb“, Frage 35), von humorvoll-banal („Nenne neue Tiernamen für die Bioingenieurwissenschaft“, Frage 24) bis zutiefst verstörend („Berechne die Viskosität eines toten Elternauges“, Frage 20). Das Gedicht hinterfragt Leistungsdruck, Sinnsuche und die Unmöglichkeit, „Leben“ als lineares Projekt zu kontrollieren.

    Struktur

    • Form: Fragmentarisch, assoziativ, ohne narrative Abfolge. Die Fragen folgen keiner logischen Ordnung, spiegeln aber Chaos und Überforderung wider.
    • Sprache: Klinisch-sachlich („Füllen Sie diese Flasche mit Urin, Tränen oder Sperma“, Frage 15) trifft auf poetisch-metaphorisch („Denke über Wasser nach“, Frage 60). Imperative dominieren, verstärken den Prüfungscharakter.
    • Intertextualität: Anspielungen auf religiöse Texte (Bibel, Koran), Literatur (T.S. Eliot, Kipling), Popkultur (Greta Garbo) und Wissenschaft (Mendelejew, Phrenologie).
    • Themencluster:
      1. Körper & Tod (Fragen 4, 14, 35, 36)
      2. Liebe & Beziehung (Fragen 11, 16, 58)
      3. Kultur & Macht (Fragen 23, 46, 47)
      4. Selbstreflexion & Identität (Fragen 55, 56, 68)
      5. Absurdität & Scheitern (Fragen 18, ma25, 40)

    LektüreNotizen

    Das Leben als absurdes Prüfungssystem

    Der Text karikiert die menschliche Obsession, Existenz in kontrollierbare Aufgaben zu zergliedern. Die Fragen spiegeln, wie wir versuchen, Chaos (Liebe, Tod, Identität) durch Systeme (Religion, Wissenschaft, Bürokratie) zu bändigen – und dabei scheitern.

    • Paradox: Je absurder die Aufgabe („Stirb“, „Berechne die Viskosität eines toten Elternauges“), desto deutlicher wird, dass „Antworten“ auf Lebensfragen oft willkürliche Konstrukte sind.
    • Verbindung zu Camus’ Absurdismus: Der Mensch als Prüfling, der verzweifelt Sinn sucht, wo keiner ist – und dennoch weiterantwortet.

    Die Illusion von Autonomie

    Die Fragen fordern „Wahrheit aus dem Herzen“ (Titel), verlangen aber gleichzeitig Anpassung an Normen („Schreibe Kipling neu“, „Analysiere dich nach Thatcher“).

    • Frage 70/71: Das Gebet wird zur Multiple-Choice-Übung, Spiritualität zur Formsache.
    • Ironie: Selbst die Aufforderung „Entspann“ (Frage 9) ist ein Imperativ – Entspannung als Pflicht.

    Der Körper als Schlachtfeld

    Wiederkehrend wird der Körper zum Objekt gemacht:

    • Gewalt: Geburtsmethoden (Frage 4), chirurgische Eingriffe (Frage 14), Menstruation (Frage 36).
    • Kontrolle: Körperflüssigkeiten sammeln (Frage 15), Gliedmaßen zählen (Frage 5) – als obsessiver Versuch, das Vergängliche zu messen.
    • Verknüpfung zum Biopolitik-Konzept (Foucault): Machtstrukturen dringen bis in intimste Körperakte ein.

    Zeit & Vergänglichkeit

    Das Gedicht zwingt zur Konfrontation mit Linearität („Wo siehst du dich in 50 Jahren?“, Frage 59) und ihrem Scheitern:

    • Vergangenheit: Kindheitstechnologien als „Schrott“ (Frage 25), ungelebte Alternativen (Frage 16).
    • Zukunft: „Stirb“ (Frage 35) als einzige sichere Antwort.
    • Gegenwart: Wird überlagert von Pflichten („Koche Mittagessen“, Frage 32) – ein Hamsterrad aus Produktivität.

    Liebe als letzte Utopie

    Trotz aller Zynik kehrt die Liebe immer wieder als unlösbare, aber zentrale Frage:

    • Frage 58: „Fasse die Geschichte deiner größten Liebe in zehn Wörtern zusammen“ – ein Versuch, das Unbeschreibliche zu kodifizieren.
    • Frage 11: Die unmögliche Liebe zur*m Geflüchteten wird zur Metapher für Sehnsucht nach Verbindung in einer fragmentierten Welt.
    • Frage 6: „Liebe besiegt alles in …“ – das offene Ende verweigert die Antwort, aber nicht die Hoffnung.

    Sprache als Falle & Rettung

    • Absurditäten wie Frage 1 („The Waste Land“ in Einsilbern) entlarven, wie Sprache Bedeutung vorgaukelt, aber nie vollständig erfasst.
    • Fragen 61–65: Können Silben, Kleidung, Blicke jemals Wesen erfassen?
    • Schlussfrage 71: Das Recht, eigene Fragen zu stellen – ein Hauch von Freiheit im Regelwerk.

    Meine Lesart:
    Das Gedicht stellt nicht die Antworten in Frage, sondern das Prinzip der Prüfung selbst – das Leben als multiple-choice-Quiz, bei dem alle Optionen falsch sind, aber das Schreiben trotzdem weitergeht.
    Wie wäre es, genau diese Geste des Weitermachens feiern: das Scheitern als einzige ehrliche Antwort. Übrigens: Der Text ist trotz aller Dunkelheit amüsant.

  • John Berger & Jean Mohr – Eine andere Art

    John Berger & Jean Mohr – Eine andere Art

    Eine andere Art zu erzählen ist ein interdisziplinäres Werk, das Fotografie und Text miteinander verbindet, um die Beziehung zwischen Bildern und Erzählung zu untersuchen. John Berger, ein britischer Schriftsteller, Kunstkritiker und Essayist, und Jean Mohr, ein schweizerischer Fotograf, arbeiten in diesem Buch eng zusammen, um die Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie als narratives Medium zu erforschen. Sie gehen der Frage nach, inwiefern Bilder selbst eine Geschichte erzählen können und wie sie in Kombination mit Text neue Bedeutungsebenen schaffen.

    Das Buch besteht aus mehreren Abschnitten, die sich aus theoretischen Essays, erzählerischen Passagen und Fotoserien zusammensetzen. Berger und Mohr stellen dabei verschiedene Formen der Fotografie vor – von dokumentarischen bis hin zu experimentellen Bildern – und reflektieren über die Art und Weise, wie sie gelesen und interpretiert werden können. Besonders betont wird, dass Bilder nicht objektiv sind, sondern in ihrer Deutung stark vom Betrachter und dessen Kontext abhängen.

    Hintergrund und Bedeutung: John Berger war bereits durch sein einflussreiches Werk Ways of Seeing („Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt“, 1972) bekannt, in dem er die Kunstbetrachtung und die visuelle Kultur kritisch analysierte. In Eine andere Art zu erzählen vertieft er seine Überlegungen zur Bildsprache, indem er sie mit den Arbeiten von Jean Mohr verknüpft. Die beiden hatten zuvor bereits in anderen Projekten zusammengearbeitet, darunter das Buch Ein Siegeszug der Hoffnung (1975), das das Leben von Landarbeitern dokumentiert.

    Das Werk steht in der Tradition der dokumentarischen Fotografie, die darauf abzielt, soziale und politische Realitäten sichtbar zu machen. Berger und Mohr zeigen auf, dass Fotografie nicht nur ein Mittel zur Abbildung der Wirklichkeit ist, sondern auch ein Instrument zur Erzählung von Geschichten, das sich mit literarischen Methoden verflechten kann.

    Zentrale Fragestellungen und Ansätze:

    • Wie beeinflusst der Kontext die Bedeutung eines Bildes?
    • Welche Rolle spielt die subjektive Wahrnehmung des Betrachters?
    • Inwiefern verändert sich die Aussage eines Fotos durch die Kombination mit Text?
    • Welche erzählerischen Mittel stehen der Fotografie zur Verfügung?

    Rezeption und Einfluss: Das Buch wurde von Kritikern und Lesern gleichermaßen geschätzt, da es eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Bild und Text eröffnete. Es wurde besonders in akademischen Kreisen diskutiert und beeinflusste die visuelle Anthropologie, Kunsttheorie und Medienwissenschaften. Berger und Mohr demonstrieren eindrucksvoll, dass die Grenzen zwischen Bildkunst und Literatur fließend sind und dass beide Medien miteinander in Dialog treten können, um tiefergehende Geschichten zu erzählen.

    Eine andere Art zu erzählen ist ein einzigartiges Werk, das Fotografie und Text auf eine Weise kombiniert, die sowohl intellektuell als auch emotional ansprechend ist. Es ist für alle Leser empfehlenswert, die sich für visuelle Kultur, Erzähltheorie oder dokumentarische Fotografie interessieren. Das Buch fordert den Leser auf, über die Art und Weise nachzudenken, wie Geschichten in Bildern erzählt werden können, und stellt damit einen bedeutenden Beitrag zur Theorie der Bildkommunikation dar.

  • Volk und Welt – Reihe „Erkundungen“

    Volk und Welt – Reihe „Erkundungen“

    Die Buchreihe „Erkundungen“ – Ein Fenster zur Weltliteratur von der DDR aus gesehen

    Die Buchreihe „Erkundungen“ des Berliner Verlags Volk und Welt (1966–1996) war ein einzigartiges Projekt, das in 64 Bänden literarische Schätze aus aller Welt versammelte. Ziel war es, die kulturelle und erzählerische Vielfalt verschiedener Länder einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen – trotz der politischen und ideologischen Grenzen der DDR. Jeder Band enthielt eine sorgfältige Auswahl von Kurzgeschichten, Erzählungen oder Lyrik, ergänzt durch Autorenbiografien und einführende Kommentare, die den Lesern einen tiefen Einblick in die literarischen Traditionen der jeweiligen Region boten.

    Ein kulturelles Schaufenster zwischen Ost und West

    Obwohl die Reihe vor allem Literatur aus sozialistischen Ländern präsentierte, fanden sich auch Werke aus dem „nichtsozialistischen“ Ausland – darunter Lateinamerika, Afrika und Westeuropa. Die Bände waren oft die einzige Möglichkeit für DDR-Leser, Autoren wie Gabriel García Márquez, Bohumil Hrabal oder Naguib Mahfouz kennenzulernen. Die Auswahl unterlag zwar politischen Kriterien, dennoch gelang es der Reihe, eine erstaunliche Bandbreite an Stimmen und Stilen abzubilden.


    Beispielhafte Bände der „Erkundungen“-Reihe aus meinem Bestand

    Erkundungen: 17 kongolesische Erzähler (1984)

    Ein seltener Einblick in die Literatur des Kongo, mit Erzählungen, die zwischen traditionellen Motiven und moderner Prosa oszillieren. Die Geschichten spiegeln die koloniale Vergangenheit und postkoloniale Identitätssuche wider – ein Thema, das in der DDR-Literaturlandschaft kaum präsent war.

    Erkundungen: 24 tschechische und slowakische Erzähler (1979, Hg. Karl-Heinz Jähn)

    Mit 312 Seiten einer der umfangreichsten Bände, der die reiche Erzähltradition der Tschechoslowakei präsentiert. Enthalten waren u.a. Texte von Bohumil Hrabal („Die Welt ist ein unaufhörlicher Strom von Zufällen, die nur darauf warten, dass wir sie in Gesetze verwandeln.“) und Josef Škvorecký, dessen Werke später im Westen große Bekanntheit erlangten.

    Erkundungen: 16 vietnamesische Erzähler (1977, Hg. Aljonna & Klaus Möckel)

    Dieser 292-seitige Band bot einen der wenigen Zugänge zur vietnamesischen Literatur in deutscher Sprache. Die Erzählungen verbanden oft folkloristische Elemente mit zeitgenössischen Themen, darunter der Krieg und seine Nachwirkungen.

    Erkundungen II: 42 Schweizer Erzähler (1984, Hg. Ingeborg Quaas)

    Ein Panorama der Schweizer Literatur, das von klassischen Autoren bis zu damals zeitgenössischen Stimmen reichte. Die Schweiz – sonst eher als „westliches“ Land wahrgenommen – wurde hier in ihrer mehrsprachigen Vielfalt präsentiert.

    Erkundungen: 21 Erzähler aus Belgien und den Niederlanden (1976)

    Dieser Band zeigte die literarische Nähe und Unterschiede zwischen flämischen, wallonischen und niederländischen Autoren. Besonders spannend war die Gegenüberstellung von magischem Realismus und sozialkritischer Prosa.


    Die Bedeutung der Reihe heute

    Die „Erkundungen“-Bände sind heute nicht nur Zeugnisse der DDR-Verlagsgeschichte, sondern auch wichtige literarische Dokumente. Viele der enthaltenen Autoren wurden später weltberühmt, andere sind heute fast vergessen – doch die Reihe bewahrt ihre Stimmen. Für Sammler und Literaturinteressierte sind die markanten Hardcover-Ausgaben mit ihren charakteristischen Schriftzügen längst begehrte Objekte.

    „Erkundungen“ war mehr als eine Buchreihe: Sie war ein kulturelles Brückenprojekt, das trotz politischer Beschränkungen Neugier auf die Welt weckte. Auch heute noch lohnt es sich, in diesen Bänden zu stöbern – denn sie erzählen nicht nur von fernen Ländern, sondern auch von einer Zeit, in der Literatur noch ein Fenster zur Welt sein konnte.

  • Annäherung an Karl Brögers „Die alten Götter sind tot“

    Annäherung an Karl Brögers „Die alten Götter sind tot“

    Der Versuch einer sprachlichen Analyse. Versuch deshalb, weil ich das Gedicht nicht verstehe.

    Die alten Götter sind tot.
    In diesen Tagen
    haben wir ihre Bilder zerschlagen
    und künden laut ein neues Gebot.

    Volk du bist groß
    und unbegreiflich in deinem Tun.
    Volk, dein Schoß
    läßt die Kinder der Zukunft los.
    Söhne der Lüge, Söhne der Wahrheit.
    Brüder im Irrtum, Brüder in Klarheit
    wirren um dich in buntem Schwarm.
    Alle liegen in deinem Arm
    und wollen an deinem Herzen ruhn,
    Mutter!

    Ewig junges Angesicht
    kehrst du nach der Erde hin.
    Große Allgebärerin,
    du stirbst nicht.
    Du bist unsres Lebens Leben,
    Volk, und unser tiefster Wurzelgrund.
    Jeder Hauch ist dir ergeben,
    jede Hand beschwöre neu den Bund.

    Tod ist Irrtum, Sterben Trug,
    was da lebt, ist schon gewesen.
    Immer hebt zu neuem Flug
    sich der Geist und will in Sternen lesen.
    Einmal müssen wir genesen,
    und aus aller Wirrnis uns befrein.
    Volk, dann wirst du erst geboren sein,
    wirst dein eignes Antlitz kennen
    und dich mit dem wahren Namen nennen.

    Mächtig schwillt das Beten, Rufen, Schrein:
    Geburt, Geburt


    Ein Gedicht zwischen Mystik und Unschärfe

    Ohne historischen Kontext wirkt das Gedicht wie ein rätselhafter Hymnus, der mit abstrakten Bildern und pathetischen Wiederholungen arbeitet. Eine rein sprachliche Analyse zeigt:


    Unklare Subjekte – Wer spricht? Wer handelt?

    • „Die alten Götter sind tot“: Wer sind diese Götter? Religion? Tradition? Autoritäten?
    • „Wir“ („haben wir ihre Bilder zerschlagen“): Eine anonyme Gruppe – Revolutionäre? Das Volk? Eine Sekte?
    • „Volk“: Mal als „Mutter“, mal als „du“, mal als „Allgebärerin“ bezeichnet. Ist es eine konkrete Gemeinschaft oder ein mythologisches Wesen?

    Effekt: Der Leser bleibt distanziert. Das „Wir“ schließt nicht ein, sondern wirkt wie ein geheimnisvoller Kult.


    Widersprüchliche Metaphern

    Das Gedicht vermischt biologische, religiöse und kosmische Bilder:

    • Biologisch: „Schoß“, „Geburt“, „Mutter“ (als ob das Volk ein gebärender Organismus wäre).
    • Religiös: „Götter“, „Gebot“, „Bund“ (wie eine neue Offenbarung).
    • Kosmisch: „Sternen“, „Geist“, „ewig“ (transzendente Aufladung).

    Problem: Die Metaphern erklären nichts, sondern beschwören nur Stimmung.


    Paradoxe Aussagen

    • „Tod ist Irrtum, Sterben Trug“: Eine absolute Behauptung ohne Begründung.
    • „was da lebt, ist schon gewesen“: Klingt wie ein Zyklusgedanke (Wiedergeburt?), bleibt aber vage.
    • „Volk, dann wirst du erst geboren sein“: Wie kann etwas, das schon „Mutter“ ist, erst noch geboren werden?

    Wirkung: Es entsteht ein Schein-Tiefgang – die Sprache suggeriert Bedeutung, ohne sie klar zu machen.


    Sprachrhythmus: Ekstatisch, aber inhaltsleer?

    • Wiederholungen („Geburt, Geburt!“) wirken wie ein Beschwörungsritual.
    • Imperative („kehrst du“, „beschwöre neu“) fordern Aktivität, sagen aber nicht, wie.
    • Keine konkreten Handlungen, nur Zustände („wirren um dich“, „liegen in deinem Arm“).

    Fazit: Das Gedicht emotionalisiert, aber es erklärt nicht.


    Versuch einer „Übersetzung“ ins Konkrete

    Fragt man: „Wovon spricht dieses Gedicht wirklich?“, könnte man es so paraphrasieren:

    „Es gibt eine unsichtbare Kraft (das Volk), die alles hervorbringt – auch Widersprüche (Lüge/Wahrheit). Sie ist ewig, aber erst in der Zukunft wird sie sich selbst erkennen. Alles Sterben ist nur Schein, denn das Leben wiederholt sich. Vertraut dieser Kraft!“

    Aber selbst diese Deutung bleibt spekulativ.


    Warum ist das Gedicht so schwer verständlich?

    1. Es fehlen Ankerpunkte: Keine konkreten Orte, Personen oder Handlungen.
    2. Die Pronomen (wir, du, Volk) sind schwammig: Wer ist gemeint?
    3. Die Bilder widersprechen sich: Wie kann das Volk gleichzeitig „Mutter“ und „ungeboren“ sein?

    Sprachliches Fazit: Ein Gedicht wie ein Nebelwand

    Brögers Text ist keine klare Botschaft, sondern ein Stimmungsgemälde. Seine Kraft liegt nicht in präziser Aussage, sondern im Rhythmus, im Pathos, im Gefühl des Aufbruchs.

    Für heutige Lesende:

    • Man kann ihn als sprachliches Experiment lesen – wie ein Musikstück ohne Textverständnis.
    • Oder als Beispiel dafür, wie Sprache Emotionen weckt, ohne Inhalt zu liefern.

    Frage zum Mitdenken:
    Gibt es moderne Texte (Lieder, Gedichte, Reden), die ähnlich vage bleiben – aber trotzdem wirken?


    Kurzum: Das Gedicht ist wie ein Rorschach-Test – man sieht darin, was man sucht. Seine Unschärfe macht es anfällig für Projektionen – damals wie heute.

  • Lila und Blau

    Lila und Blau

    „Die beste Antwort auf ein Gedicht ist ein neues Gedicht.“
    Adrienne Rich

    Ich steh’ im Flur der Jahre,
    hör’ die Türen knarren:
    Hier Mutter, die sich
    mit jedem Atemzug
    ein Stück kleiner macht,
    dort Großmutter,
    die schweigend
    die Nähte im Teppich
    zerreißt –
    bis alles Fadenwerk
    sich löst.

    Meine Tochter trägt lila Schuhe,
    tanzt in einen Kreis,
    der mich nicht ruft.
    Doch ich höre
    ihr Miteinander
    wie einen Fluss,
    der mich trägt.

    Ich bin der Mann,
    der Wurzeln sucht –
    nicht im Blut,
    sondern im Halten,
    im Geben,
    im Strom,
    der nicht versiegt.

    Die Welt wird lila werden.
    Ich werde blau sein.


    Meine Antwort auf das Gedicht von Safiye Can: Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung.

    Was dieser Text tut:

    • Verbindet Generationen: Meine Mutter („klein atmen“), Großmutter („Fadenwerk lösen“), Tochter („lila Schuhe“).
    • Zeigt Sehnsucht: Nach männlicher Initiation („Wurzeln suchen“).
    • Antwortet auf das Original: Nimmt das „Lila“ auf – aber öffnet es für mich („Blau“ = Männlichkeit als Fundament, nicht Konkurrenz).
  • Feministische Lyrik | Eine historische Annäherung

    Feministische Lyrik | Eine historische Annäherung

    Annähernd gelesen: Safiye Can – Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung

    Diese Lyrik ist keine Neuheit, keine Besonderheit. Von Audre Lorde bis May Ayim nutzten Dichterinnen bewusst exklusive Sprache, um Räume zu schaffen, die Machtverhältnisse umdrehen – wenn auch vorwiegend auf dem Papier.

    Feministische Lyrik & Kampfschriften im deutschsprachigen Raum

    1970er: Zweite Welle des Feminismus | Nach 1968 entstanden radikale Frauengruppen (z. B. *Brot und Rosen*, *Frauenaktion 70*), die sich von gemischten linken Gruppen abspalteten – weil auch dort Frauen oft übergangen wurden.  

    Literatur

    Häutungen“ (1975) von Verena Stefan: Autobiografischer Bestseller über weibliche Selbstfindung, der private Erfahrungen politisch machte.  

    „Wir schrieben nicht für die Literaturgeschichte, sondern für die Frauen, die uns zuhörten.“*  

    – Verena Stefan (*Häutungen*) 

    „Frauenliteratur“-Debatte: Autorinnen wie Ingeborg Bachmann oder Christa Wolf wurden neu gelesen – nicht als „universelle“ Dichterinnen, sondern als Stimmen weiblicher Erfahrung. Memo: Davon einiges im Bestand, dem nachgehen.

    Lyrik als Waffe: Kurze, agitatorische Gedichte (wie das von Safiye Can) wurden in Frauenzeitschriften (*Courage*, *Emma*) oder auf Demos genutzt, um Solidarität zu schaffen.  

    1980er: Differenzfeminismus & Lesbenbewegung 

    „FrauenLesben“-Gruppen betonten bewusst weibliche Räume („Männer raus!“).  

    Texte:  

    „Die Lust an der Unlust“ (1983) von Elfriede Jelinek: Radikale Kritik an männlicher Dominanz in Sprache und Gesellschaft.  

    „Lila“ als Symbol: Übernommen aus der US-Bewegung („Lavender Menace“) – Farbe der Utopie und des Protests.  
    „Die Farbe Lila im Gedicht erinnert an Alice Walkers Roman – doch während sie dort persönliche Heilung meint, steht sie hier für eine politische Vision. Bemal mal verbindet sie: die Weigerung, unsichtbar zu sein.“

    1990er–2000er: Intersektionalität & Popfeminismus  

    Themen:
    Rassismus, Klasse, Queerness kamen hinzu (z. B. May Ayim über Schwarze deutsche Identität).  
    Töne:  
    Provokation („Kampfeslust“ von Sonja Eismann, 2007)  
    Ironie („Wir Alphamädchen“ von Meredith Haaf, 2008)  

    Heute: Digitale Netzwerke & neue Formen  

    Hashtags wie #MeToo oder #Frauenstreik nutzen kurze, wütende Texte – ähnlich deinem Gedicht.  


    Warum das Gedicht Aussicht auf Leben und Gleichberechtigung von Safiye Can in diese Tradition passt:  

    Adressatinnen: Klare Ansprache an Frauen („Frauen, bildet eine Faust!“) → Typisch für 1970er-Aktivismus.  

    Utopie: „Die Welt muss lila werden“ → Verweis auf feministische Symbolik.  

    Funktion: Soll Empowerment/Ermächtigung stiften, nicht diskutieren – daher keine Männer-Debatte.  

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