Das Gedicht beschreibt den Besuch eines Ortes, der als Hinrichtungsstätte diente. Der Raum wird sachlich geschildert: Unter der Decke sind Haken und ein schwarzer Balken sichtbar. Die kahlen, grauen Wände umschließen eine leere Stille, in die man vorsichtig hineintritt. Diese Stille wird als drückend beschrieben – wie Steine auf der Zunge oder ein einhüllender Rauch. An den Wänden finden sich keine direkten Spuren der Vergangenheit oder der letzten Blicke der Hingerichteten. Das einzige Zeugnis der Geschehnisse sind schriftliche Dokumente: Mit Schreibmaschine getipptes Papier, auf dem die Namen der Hingerichteten verzeichnet sind. Hinter jedem Namen steht ein Haken, und die Punkte der Schreibmaschine sind wie Einschlagkrater ins Papier gedrückt.

Historische Einordnung:
Das Gedicht bezieht sich auf die Hinrichtungsstätte im Gefängnis Berlin-Plötzensee während der nationalsozialistischen Diktatur (1933-1945). Hier wurden zwischen 1933 und 1945 tausende Menschen durch den Fallbeil oder den Strang hingerichtet, darunter politische Gegner des NS-Regimes, Widerstandskämpfer (wie viele aus dem Umfeld des Attentats vom 20. Juli 1944) und Opfer der NS-Militärjustiz. Die beschriebenen Haken und der schwarze Balken verweisen auf die Galgen, die für Massenhinrichtungen genutzt wurden. Die erwähnten Dokumente mit den Haken hinter den Namen entsprechen den geführten Hinrichtungslisten. Das Gedicht entstand vermutlich in der Nachkriegszeit als Auseinandersetzung mit diesem Ort des NS-Terrors.
Renatus Deckert arbeitet hier implizit mit Gefühlen, sowohl durch die Darstellung der Wirkung des Ortes auf den Besucher als auch durch die Lenkung der Leserwahrnehmung:
Körperliche und sensorische Wirkung:
Die Befehlsform („Senkst du die Lider“) und die direkte Ansprache („so siehst du„, „in die du behutsam die Schritte setzt“) ziehen den Leser in die Perspektive des Besuchers hinein.
Körperliche Reaktionen werden beschrieben: Die Stille legt sich wie „Steine auf deine Zunge“ und „hüllt dich ein wie Rauch“. Diese Metaphern evozieren direkt das Gefühl von Erstickung, Schwere, Lähmung und einem undurchdringlichen, bedrückenden Schleier.
Atmosphärische Verdichtung:
Begriffe wie „Stille“, „Leere“, „Grau“ und „behutsam“ erzeugen eine Atmosphäre der Beklemmung, Ehrfurcht und Bedrohung. Die Stille ist nicht friedlich, sondern aktiv und drückend („legt Steine“, „einhüllt“).
Der Kontrast zwischen der scheinbaren Leere („Kein Fleck an der Mauer erzählt…“) und dem einzigen, umso schrecklicheren Zeugnis (das Dokument mit den „Kratern“ und „Haken“) steigert die Düsterkeit.
Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Unsagbare:
Das Schweigen der Mauern („erzählt nicht von dem letzten Blick“) und die Betonung der Stille lenken den Fokus auf das Abwesende – das Grauen, das hier stattfand und das sich der direkten Darstellung entzieht. Diese Leere erzeugt beim Leser das Gefühl des Unfassbaren und Entsetzens.
Gewalt in der Sprache:
Die Beschreibung des Dokuments ist emotional aufgeladen: Die Punkte sind „wie Krater ins Blatt geschlagen“, die Feder ist „kratzend“, die Haken hinter den Namen wirken wie brutale Abhakvorgänge. Dies überträgt die Gewalt der Vergangenheit auf das materielle Zeugnis.
Der Autor benennt keine Gefühle direkt (wie „Angst“, „Trauer“ oder „Abscheu“). Stattdessen erzeugt er emotionale Wirkungen:
Durch die Identifikation mit der Besucherperspektive („du“).
Durch die Schilderung körperlicher Empfindungen (Steine auf der Zunge, einhüllender Rauch).
Durch die Verdichtung einer bedrückenden, gewaltvollen Atmosphäre (Stille, Leere, Grau, das gewaltsame Dokument).
Durch das Aufzeigen der Abwesenheit von Spuren, was das Grauen nur umso präsenter macht.
Lesende werden also nicht über ihre Gefühle informiert, sondern durch Sprache und Bildlichkeit unmittelbar in einen Zustand der Beklemmung, des Unbehagens und der Trauer über das Unsagbare versetzt. Die Gefühle entstehen aus der Wahrnehmung des Ortes und seiner Zeugnisse, die der Autor sprachlich vermittelt.
Das Gedicht erschien 2011 in der Anthologie Es gibt eine andere Welt – erschienen im Poetenladen. Der Internetauftritt der Gedenkstätter Plötzensee.
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