Loulou Omers Gedicht „EINS UND NOCH EINS“ aus dem Band Was es bedeuten soll. Neue hebräische Gedichte in Deutschland (parasitenpresse 2019, S.100) verbindet introspektive Reflexion mit metaphorischer Sprache, um zentrale Themen wie Identität, menschliche Verbindungen und die Suche nach Authentizität zu erkunden. Formal bricht das Gedicht mit Konventionen: Auf den mathematisch-nüchternen Titel, der Wiederholung oder die Addition von Erfahrungsfragmenten symbolisieren könnte, folgen reimlose, fragmentarische Sätze und abrupte Gedankensprünge. Diese Form spiegelt möglicherweise die Zerbrechlichkeit oder Zersplitterung von Identität wider.
Die vielschichtige Bildsprache vermischt scheinbar Gegensätzliches: Ein Teddybär und ein Herz stehen neben mathematischen Gleichungen. Diese Kontrastierung von Kindlich-Emotionalem mit Rational-Abstraktem verweist auf Schutzmechanismen und die Spannung zwischen emotionalem Bedürfnis und rationaler Distanz. Thematisch steht die Identität im Vordergrund, insbesondere die Diskrepanz zwischen Selbstbild und Fremdwahrnehmung. Die Zeile „mein Name kommt, zweifellos, ohne mich voran“ deutet an, dass die Identität der Sprecherin von äußeren Zuschreibungen losgelöst existiert – vielleicht sogar als „etwas woran niemand rüttelt – eine Art Wahrheit“. Dies lässt sich als Kommentar zu gesellschaftlichen Projektionen lesen, etwa zur Wahrnehmung jüdischer Identität in Deutschland als scheinbar unantastbare Kategorie.
Damit eng verknüpft ist das Thema Kontakt und Isolation. Das „Knüpfen von Kontakten“ erscheint als erlernte, fast mechanische „Selbstverständlichkeit“, was auf Oberflächlichkeit oder das Gefühl hinweist, Beziehungen performen zu müssen. Gleichzeitig schützt sich die Sprecherin durch das „Ausblenden der Anderen“ und die Umarmung des Teddys – Symbole für kindliche Sicherheit und emotionale Abgrenzung. Dieser Konflikt zwischen Wahrheit und Schutzmechanismen wird auch in den mathematischen Formeln („zwei und noch mal zwei sind fast vier“) deutlich. Sie stehen für rationale Klarheit, wirken jedoch „ohne Umarmung“ kalt und unvollständig. Die angestrebte „Wahrheit, die für sich steht“ könnte eine schmerzhafte, illusionslose Realität bedeuten.
Der biografische und historische Kontext von Loulou Omer als jüdischer Autorin in Deutschland ist für dieses Gedicht bedeutsam. Es lässt sich als Auseinandersetzung mit diasporischer Identität lesen: Der Name, der „sich verbreitet“ und „niemanden stört“, könnte auf die Sichtbarkeit von Jüd:innen in Deutschland verweisen, die oft als „Symboltragende“ wahrgenommen werden, während ihr individuelles Selbst komplexer ist. Die Ambivalenz zwischen Kontaktsuche („Teil interessiert sich für mich“) und Rückzug spiegelt den Spagat zwischen Integration und Selbstschutz in einer Gesellschaft mit antisemitischen Untertönen. Der Teddybär als Trostobjekt könnte zudem auf generationenübergreifende Traumata anspielen – eine kindliche Unschuld, die von historischer Last überschattet wird.
Insgesamt handelt das Gedicht von existenzieller Selbstbehauptung. Die fast mantrahaft wirkenden Zeilen „gar nicht so üble Existenz / sogar mehr als das, echt“ wirken wie ein Versuch, das eigene Dasein gegen äußere Abwertung oder innere Zweifel zu validieren. Das Bekenntnis „Schöpferisch bin“ deutet auf künstlerisches Schaffen als Mittel des Widerstands, besonders aus einer marginalisierten Position. Die durchgängige Spannung zwischen Rationalität (Mathematik, gesellschaftliche Erwartungen) und emotionaler Vulnerabilität (Teddy, Umarmung) unterstreicht die Suche nach einem authentischen Selbst im Spannungsfeld äußerer Zuschreibungen und inneren Erlebens. Omers Gedicht oszilliert so beständig zwischen Verletzlichkeit und analytischer Distanz. Der Teddybär steht dabei symbolisch für notwendigen Trost und Schutzräume, während die mathematischen Metaphern die Sehnsucht nach Eindeutigkeit in einer komplexen, oft widersprüchlichen Welt ausdrücken.
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