Emine Sevgi Özdamar – Ein von Schatten begrenzter Raum

Annähernd gelesen | Was begrenzt einen Raum durch Schatten? Ist es die Abwesenheit von Licht oder gerade seine Anwesenheit, die den Schatten erst wirft? Wo erscheinen räumliche Begrenzungen? Sind es physische Räume (Fabrikhallen, Wohnungen, Gefängniszellen) oder metaphorische (kulturelle Zugehörigkeit, Geschlechterrollen, politische Zuordnungen)?

Frage zur Vertiefung: Wie verhält sich der Buchtitel zu den konkreten Räumen im Text? Gibt es Szenen, in denen Schatten explizit vorkommen?

Zur Sprache – das fällt sofort auf

Die Sprache Özdamars klingt anders. Es ist Deutsch, aber irgendwie fremd. Hier lohnt es sich, konkrete Beispiele rauszuschreiben. Welche Bilder wirken ungewohnt? Wo fehlen kleine Wörter wie „der“ oder „die“, wo klingen Sätze komisch gebaut?

Eine Überlegung: Macht diese fremde Art zu sprechen das Deutsche reicher oder ärmer? Oder ist das die falsche Frage? Vielleicht geht es weniger darum, ob es „besser“ wird, sondern darum, dass plötzlich sichtbar wird, wie sehr wir an bestimmte Formulierungen gewöhnt sind.

Weiterdenken: Sätze festhalten, die besonders anders klingen. Was genau ist das Fremde daran? Wie würde ich den Satz „normal“ formulieren? Was geht dann verloren?
Ist das hier eine Mischsprache aus Türkisch und Deutsch, oder ist es eher ein Deutsch, das türkisch denkt? Macht dieser Unterschied überhaupt einen Unterschied?

Die namenlose Erzählerin

Die Hauptfigur hat keinen Namen. Das könnte verschiedenes bedeuten: Steht sie stellvertretend für viele andere? Ist die Namenlosigkeit ein Zeichen dafür, dass sie ihre Identität verloren hat – oder gerade dafür, dass sie nicht festgelegt sein will?

Wie verändert sich diese Figur? Gibt es eine klassische Entwicklung von A nach B oder eher ein Sammeln von Erfahrungen? Die Protagonistin nimmt die Welt sehr direkt wahr, fast wie ein Kind – sehr körperlich, sehr bildhaft. Gleichzeitig erlebt sie krasse Gewalt und politische Radikalisierung.

Fragen: Wie passt das zusammen? Ist die poetische Art zu sehen ein Schutz gegen das Schlimme? Oder macht sie gerade diese Offenheit verletzlicher?
Gibt es Momente, in denen die Erzählerin sich selbst von außen sieht? Wo denkt sie über sich selbst nach?

Migration als Erfahrung

Der Roman erzählt keine typische Auswanderergeschichte mit Ankunft, Eingewöhnung und Heimischwerden. Stattdessen geht es hin und her, und beide Orte – Deutschland und die Türkei – werden immer fremder.

Das wirft die Frage auf: Ist Migration hier ein Ortswechsel oder ein Zustand? Die Protagonistin scheint nirgendwo richtig anzukommen, aber vielleicht ist gerade dieses Dazwischen ihr Platz?

Fragen: Wie werden die verschiedenen Orte beschrieben? Gibt es Unterschiede zwischen den deutschen und den türkischen Szenen? Oder verschwimmen die Grenzen?
Auffällig: Die Zeit im Roman springt hin und her. Wie hängt diese nicht-gerade-Erzählweise mit der Migrationserfahrung zusammen? Ist Zeit anders, wenn man zwischen zwei Welten lebt?

Körper, Geschlecht, Gewalt

Der Text ist sehr körperlich. Sex, Menstruation, Fabrikarbeit, Gewalt – all das wird direkt und detailliert beschrieben. Gleichzeitig geschieht das in dieser poetisch-fremden Sprache, die eine eigene Distanz schafft.

Fragen: Wie werden männliche und weibliche Körper gezeigt? Gibt es Unterschiede? Gewalt gegen Frauen zieht sich durch – sowohl sexuelle als auch politische Gewalt. Wie hängt das zusammen?
Weiterforschen: Özdamar hat lange am Theater gearbeitet. Ist der Körper hier auch eine Bühne? Gibt es Szenen, die wie Theater wirken?

Das politische Geschehen

Die 1960er und frühen 1970er Jahre in der Türkei waren geprägt von Studentenprotesten, linken Gruppen und staatlicher Unterdrückung. Der Militärputsch von 1971 ist ein Wendepunkt. Der Roman zeigt diese Ereignisse aus einer sehr persönlichen, bruchstückhaften Perspektive.

Wie viel muss ich über die historischen Hintergründe wissen? Setzt der Text Kenntnisse voraus oder erklärt er? Was passiert, wenn ich die Hintergründe nicht kenne?

Beobachtung: Politik erscheint oft körperlich – in Demos, Versammlungen, Folterszenen. Gibt es eine Verbindung zwischen politischer und geschlechtlicher Gewalt?
Rechercheidee: Den historischen Kontext genauer anschauen – was war los in der Türkei zwischen 1965 und 1975? Welche Rolle spielte die Linke? Was bedeutete der Militärputsch?

Theater als Ort der Verwandlung

Das Theater erscheint im Roman als Ort, wo sich etwas verändert. Die Protagonistin findet über die Theaterarbeit in Istanbul einen Weg zu künstlerischem Ausdruck und politischem Bewusstsein.

Alle Szenen, die mit Theater zu tun haben: Wie werden Proben, Aufführungen, die Theatergruppe beschrieben?

Eine Ebene tiefer: Özdamar selbst hat mit Brecht und Benno Besson gearbeitet. Gibt es Spuren von Brechts Theaterideen im Roman? Die Szenen-Struktur, die Verfremdung, die Distanz – sind das Theater-Techniken in Buchform?
Weiterdenken: Ist der ganze Roman vielleicht selbst theatral zu verstehen? Sind die kurzen Abschnitte wie Szenen einer Aufführung?

Was der Text alles mitbringt – Geschichten in der Geschichte

Beim Lesen fällt auf: Da tauchen immer wieder Lieder auf, Märchen, Sprichwörter, Geschichten. Manche klingen vertraut, andere komplett fremd. Die Erzählerin zitiert, singt, erinnert sich an Erzählungen ihrer Großmutter, an Theaterstücke, an Gedichte. Manchmal sind es nur einzelne Zeilen, manchmal ganze Episoden. Was erkenne ich? „Rotkäppchen“ kenne ich, aber wenn ein türkisches Volkslied auftaucht – keine Ahnung. Und das ist völlig okay.

Interessant: Wie fühlt sich das an, wenn ich etwas nicht verstehe? Macht es mich neugierig oder frustriert? Hole ich mein Handy raus und google, oder lese ich einfach weiter? Aber vielleicht ist gerade dieses Gefühl – „Hier verstehe ich nur die Hälfte“ – genau das, was die Erzählerin auch empfindet. In beiden Richtungen.

Eine Vermutung: Özdamar baut hier eine Welt, in der deutsche und türkische Kultur nicht sauber getrennt sind, sondern wild durcheinandergehen. Wie im echten Leben auch. Wir alle haben Referenzen, die andere nicht haben – egal wo wir herkommen.

Praktisch: Vielleicht einfach eine Liste machen: „Das kenne ich / Das kenne ich nicht“. Und dann schauen: Brauche ich wirklich Hintergrundwissen, um die Szene zu verstehen? Oft funktioniert sie auch ohne. Die Stimmung, die Musik der Worte, der Kontext – das trägt schon viel.

Wie ist der Roman gebaut?

Der Roman besteht aus kurzen Szenen, die aneinandergereiht sind. Manchmal mit klaren Zeitsprüngen, manchmal fließend. Erinnerungen mischen sich mit Gegenwart, Träume mit Realität.

Gibt es trotzdem eine Ordnung? Könnte ich eine Chronologie rekonstruieren? Oder ist gerade das Nicht-Rekonstruierbare wichtig?

Auffällig: Manche Bilder und Motive kommen immer wieder – wie Melodien, die sich wiederholen. Welche sind das? Was verändert sich, wenn sie wiederkehren?

Zur Form: Wie enden die einzelnen Abschnitte? Gibt es Cliffhanger, offene Enden, kehrt etwas zum Anfang zurück?

Der Schatten – eine Spur durch den Text

Zurück zum Titel. Der Schatten taucht bestimmt immer wieder auf – als Bild, als Vergleich, vielleicht auch ganz konkret.

Alle Stellen mit Schatten, Dunkelheit, Licht markieren. Gibt es ein Muster? Wann erscheinen Schatten?

Nachdenken: Was ist ein Schatten eigentlich? In manchen Geschichten ist er ein schlechteres Abbild. In anderen ist er ein Doppelgänger, ein verlorener Teil der Seele (wie bei Peter Schlemihl!). Und manchmal ist er Schutz vor zu viel Licht, vor zu viel Sichtbarkeit.

Verbindung: Emine Sevgi Özdamar hat den Adelbert-von-Chamisso-Preis bekommen. Peter Schlemihl verkauft seinen Schatten. Gibt es da eine Verbindung?

Fragen, die (vorerst) offen bleiben

  • Wie viel von Özdamars eigenem Leben steckt im Text? Spielt das überhaupt eine Rolle? Was macht diesen Roman zu „Migrationsliteratur“? Ist das eine hilfreiche Schublade oder eine einengende? Für wen schreibt Özdamar? Für deutsche Leser? Für türkische? Für beide? Für keine von beiden? Wie verändert die fremde Sprache meine Art zu lesen? Lese ich langsamer? Aufmerksamer? Verwirrter? Gibt es im Roman auch Glück, Leichtigkeit, Humor? Oder überwiegt das Schwere? Verändert sich die Sprache im Laufe des Romans?

Was danach kommt

Nach der Lektüre wäre es spannend, die anderen Bücher Özdamars zu lesen – die Fortsetzungen Die Brücke vom Goldenen Horn und Seltsame Sterne starren zur Erde. Bilden sie eine Reihe? Entwickelt sich die Sprache weiter?

Außerdem: Andere Autor*innen lesen, die auch zwischen Sprachen und Kulturen schreiben – Yoko Tawada, Rafik Schami, Feridun Zaimoglu. Gibt es Gemeinsamkeiten oder ist jede Stimme ganz eigen?

Titelfoto: Roman Kogomachenko

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