Als hätten sich György Kurtág, Johann Sebastian Bach und Oskar Loerke am Hubertussee getroffen.a

Der Silberdistelwald
Mein Haus, es steht nun mitten
Im Silberdistelwald.
Pan ist vorbeigeschritten.
Was stritt, hat ausgestritten
In seiner Nachtgestalt.

Die bleichen Disteln starren
Im Schwarz, ein wilder Putz.
Verborgne Wurzeln knarren:
Wenn wir Pans Schlaf verscharren,
Nimmt niemand ihn in Schutz.

Vielleicht, dass eine Blüte
Zu tiefer Kommunion
Ihm nachfiel und verglühte:
Mein Vater du, ich hüte,
Ich hüte dich, mein Sohn.

Der Ort liegt waldinmitten,
Von stillstem Licht gefleckt.
Mein Herz – nichts kam geritten,
Kein Einhorn kam geschritten –
Mein Herz nur schlug erweckt.

Oskar Loerke | 1934


Begleitmusik | Játékok. Marta und György Kurtág spielen J. S. Bach. ECM Records, ℗1997. Darauf zu finden: Distel III, 14 — Dauer: 24 Sekunden. Ob das dieser Pflanze gerecht wird?

Diese Aufnahme gehört nicht zur erwähnten ECM-CD. Bogáncs ist übrigens das ungarische Wort für Distel. Játékok – Bogáncs · György Kurtág | Kamarazene (Kammermusik) | ℗ 1976 HUNGAROTON RECORDS LTD.

Der „Silberdistelwald“ des Oskar Loerke liegt am Hubertussee, geschaffen im Zusammenhang mit dem Bau der Gartenstadt Frohnau aus einem verlandeten Tümpel. Im späten 19. Jahrhundert wurde hier Ton für die nahegelegene Ziegelei gegraben. [Loerkes Vater war übigens Ziegeleibesitzer.]

Oskar Loerke (* 13. März 1884 in Jungen bei Schwetz/ Wiąg in Westpreußen; † 24. Februar 1941 in Berlin) war ein deutscher Dichter des Expressionismus und des Magischen Realismus. Das Gedicht erschien 1934 im gleichnamigen Gedichtband.
Seine ausgeprägte Liebe zur Musik fand u.a. Ausdruck in veröffentlichten Texten zu Johann Sebastian Bach und 1938 zu Anton Bruckner:
1922 Wandlungen eines Gedankens über die Musik und ihren Gegenstand bei Johann Sebastian Bach
1935 Das unsichtbare Reich. Johann Sebastian Bach, S. Fischer
1938 Anton Bruckner. Ein Charakterbild

Begleitmusik 2 | Johann Sebastian Bach „Geschwinde, ihr wirbelnden Winde (BWV 201)“ –  eine weltliche Kantate. Im Autograph trägt sie den Titel „Der Streit zwischen Phoebus und Pan“]

Eine Annäherung an Oskar Loerkes Silberdistelwald

Oskar Loerkes Gedicht „Der Silberdistelwald“ (1934) entfaltet eine dichte, symbolträchtige Atmosphäre, die Natur, Mythos und existenzielle Reflexion miteinander verwebt. Der Text lässt sich als eine Auseinandersetzung mit Einsamkeit, Vergänglichkeit und der Suche nach spiritueller oder emotionaler Geborgenheit lesen, wobei die Natur sowohl als Ort der Stille als auch als Spiegel innerer Zustände fungiert.

Raum und Symbolik
Das lyrische Ich situiert sich „mitten im Silberdistelwald“, einem Ort, der durch paradoxe Bilder geprägt ist: Die Disteln wirken zugleich statisch („starren im Schwarz“) und lebendig („wilder Putz“; „Wurzeln knarren“). Die „Silberdistel“ selbst könnte als Symbol für Widerstandsfähigkeit, aber auch für Schutzlosigkeit stehen – ihre scharfen Stacheln kontrastieren mit der Zerbrechlichkeit der später erwähnten „Blüte“, die „verglüht“. Der Wald wird zum Raum des Rückzugs, aber auch der Begegnung mit mythischen Kräften: Pan, der antike Hirtengott, durchstreift die Szenerie, verkörpert jedoch keine bedrohliche Wildheit, sondern erscheint als schlafende, schutzbedürftige Gestalt.

Generationen und Verantwortung
Auffällig ist die Dynamik zwischen dem lyrischen Ich und den angesprochenen Figuren „Vater“ und „Sohn“. Die Zeilen „Mein Vater du, ich hüte, / Ich hüte dich, mein Sohn“ deuten auf eine Umkehrung traditioneller Rollen hin – Schutz wird nicht linear vergeben, sondern zirkulär. Dies könnte als Metapher für eine existenziellere Fürsorge gelesen werden: Vielleicht hütet das Ich nicht konkrete Personen, sondern etwas Abstrakteres wie Erinnerungen, spirituelle Verbindungen oder die fragile Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Zeit und Stille
Der Wald ist ein Ort der Entschleunigung: „Nichts kam geritten“, kein mythisches „Einhorn“ durchbricht die Ruhe. Stattdessen wird das Erwachen des Herzens rein innerlich erfahren („Mein Herz nur schlag erweckt“). Die Zeit scheint hier stillzustehen, was durch die Wiederholung des Ortes („waldinmitten“) und das „stillste Licht“ betont wird. Die Abwesenheit äußerer Ereignisse unterstreicht die Hinwendung zur Introspektion.

Form und Klang
Loerke arbeitet mit kurzen, gereimten Versen (Kreuzreim), die durch Enjambements fließend wirken. Die Sprache ist knapp, fast lakonisch, doch die Wahl archaischer oder mythologischer Begriffe („verscharren“, „Kommunion“) schafft eine feierliche Grundstimmung. Klanglich evozieren Wörter wie „knarren“ oder „geschritten“ eine haptische, fast unheimliche Präsenz des Waldes.

Kontextualisierung
Entstanden 1934, in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche, lässt das Poem keine direkten zeitgeschichtlichen Anspielungen erkennen. Doch die Betonung von Schutzlosigkeit („niemand nimmt ihn in Schutz“) und die Suche nach einem inneren „erweckten“ Kern könnten als subtile Reaktion auf Unsicherheiten gedeutet werden. Loerke, der dem Kreis der „Naturmagischen“ zugerechnet wird, verhandelt hier weniger konkrete Realitäten als universelle menschliche Grundfragen – verwurzelt in der Natur, aber transzendierend ins Metaphysische.

Einen besonderen Blick habe ich auf die ambivalente Darstellung des Waldes – zugleich Schutzraum und Ort der Vergänglichkeit – geworfen. Er scheint mir die poetische Mehrdeutigkeit des Textes zu unterstreichen.


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