Blog

  • Hoffnung ausgelotet

    Hoffnung ausgelotet

    Alles ist ausgelotet.
    Die Tiefen sind vermessen.
    Es gibt keine Unbekannte mehr.

    Die größte Höhe ist erklommen.
    Du vermisst das Höchste.
    Verlorst dabei das Größte.

    Berechnet, ausgerechnet ist alles,
    Sinnvolles verloren.
    Messbarer Sinn.

    Gewonnen ist nichts?
    Unsicher das Gemessene?
    Verloren das Gesuchte?

    Erspüre demütig, 
    die Vermessung  —
    in dir neue Werte.


    Wolf Huber (1485–1553) | Donaulandschaft bei Krems, Federzeichnung 1529 | Kupferstichkabinett Berlin
    Wolf Huber (1485–1553) | Donaulandschaft bei Krems, Federzeichnung 1529 | Kupferstichkabinett Berlin

    Zum Titelbild: Wolf Huber (* um 1485 in Feldkirch, Vorarlberg; † 3. Juni 1553 in Passau) war ein österreichisch-deutscher Maler, Zeichner und Baumeister der Renaissance.Über sein Leben ist wenig bekannt. Seit etwa 1510 in Passau tätig, wurde er dort 1540 zum Hofmaler des Bischofssitzes und 1541 Stadtbaumeister. Mit eigentlichem Vornamen hieß er Wolfgang.

    Huber, der neben Albrecht Altdorfer als der bedeutendste Meister der Donauschule gilt, wird heute vor allem wegen seiner leichthändigen, wie geschriebenen Landschaftszeichnungen geschätzt. Er entwickelte die „beseelte“ Landschaft von innig-zarter Naturschilderung bis zu dämonischen Visionen. In Hubers Malerei gewinnt die Landschaft gegenüber dem Szenischen den Vorrang.

  • Hände zum Gebet

    Beten – Sich in innerer Sammlung (mittels ritualisierter Abläufe) mit einer Bitte, einem Bekenntnis, einem Dank an ein höheres Wesen zu wenden und mit ihm, ihr in Zwiesprache zu treten. Eines der wichtigsten Elemente, neben dem Wort, ist übrigens das Atmen.

    Der Einstieg in das Lernen zu beten kam vor etwa einem Jahr, beim „Hineinschnuppern“ in eine evangelische Gemeinde. Meine ernüchternden Erfahrungen bisher: wenn ich im Gebet um etwas positives bitte, kommt exakt das Gegenteil. Darauf ist 100 % Verlass. Leider konnte mich bis dato kein Glaubensvermittler (m/w) über die mögliche Ursache aufklären, lediglich der Hinweis auf eine wahrscheinliche Aktivität Luzifers wurde hingewiesen. Eine Schamanin wies darauf hin, dass man ganz genau formulieren müsse, um vom Universum erstanden zu werden. Was also tun? Über die Theorie in die Praxis oder der falsche Gott?

    by the way – Auf dem Lernprogramm steht noch das Beten lernen in den anderen Weltreligionen und auf anderen spirituellen Wegen. Extrem schwer ist es für mich bisher im Jüdischen eine praktische Begleitung zu finden. Dort hat man es mir leider schon immer schwer gemacht. Zum muslimischen Glauben habe ich mehr Berührungsängste als ich dachte…oder zu den Religionsvermittlern. Wer kann, mag mir helfen?

    Ein jüdisches Gebet:
    Geliebter meiner Seele: Jedid Nefesch

    Geliebter meiner Seele, barmherziger Vater, ziehe deinen Diener zu Deinem Willen, dass er zu dir hinlaufe wie die Gazelle, niederfallend angesichts deiner Pracht, Deine Freundschaft sei ihm angenehmer als Honig und alle Köstlichkeiten.

    Prächtig und schön ist der Glanz der Welt, meine Seele aber sehnt sich nach deiner Liebe. Bitte, G’tt, schaffe ihr Heilung, im Gewahrnehmung der Schönheit deines Glanzes. Dann werde ich gestärkt sein und geheilt werden und ewige Freude wird meiner Seele sein.

    Erhabener, es ströme Deine Barmherzigkeit und erbarme Dich über Dein geliebtes Kind. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, die Herrlichkeit deiner Macht zu schauen! Dies ist es das Sehnen meines Herzens: Erbarme Dich und verbirg Dich nicht.

    Offenbare dich und breite, mein Geliebter, das Zelt Deines Friedens über mir aus. Erleuchte die Erde in Deiner Ehre, dann werden wir jubeln und uns an Dir freuen. Eile zu Lieben, denn die Zeit ist gekommen, erbarme dich über uns wie in den Tagen der Vorzeit.

    (Kabalistische Hymne von ElieserAzikri, 1533-1600, Z’fath)


    Stille einüben
    dem Atem lauschen
    dem eigenen Herzschlag zuhören
    den äußeren und inneren Stimmen und Geräuschen Gehör schenken
    Gedanken anschauen
    und wie Wolken ziehen lassen
    still werden
    still sein
    sein


    Ein Vorschlag, den ich im Rahmen einer Gebetszeit via Internet erhalten habe.

    Ich bete zu Gott, weil in seiner Hand
    Mein Sein ist, mein Leib, mein Gefühl, mein Verstand,
    Mein Hoffen, mein Trachten zu jeglicher Stund
    Und ohne ihn redet kein Wörtlein mein Mund.

    Ich bete zu Gott, weil das Firmament
    Kein Licht und kein Lebendsein ohne ihn kennt;
    Ohne ihn steigt kein Tag auf den Bergen ins Licht,
    Ohne ihn ist kein Mittag und Abendzeit nicht.

    Ich bete zu Gott, weil ich da steh und schau
    Und begreif und andächtig den Boden bebau,
    Weil ich weiß, dass ich ohne sein Gnad und Gewähr
    Nicht Licht hätt und tot wie ein Ackerstein wär.

    1930er Jahre
    Guido Zernatto (* 21. Juni 1903 in Treffen; † 8. Februar 1943 in New York City, USA) war ein österreichischer Schriftsteller und Politiker.

    »Ach, Sie wissen ja, Madame, dass die Menschen sich ihre Götter nach dem, was sie lieben, und nach dem, was sie hassen, bilden. Die Inder beten eine Kuh an, die Mongolen ein Lamm, die Siamesen einen weißen Elefanten. Lassen Sie uns das goldene Kalb anbeten; das ist noch der ausgebreitetste Kultus.“


    Aus: Alexander Dumas (der Ältere) | Lady Hamilton Memoiren einer Favoritin, Kapitel 1

    Mögen alle Wesen Glück
    und den Schlüssel zum Glück finden,
    mögen sie frei von Leiden
    und der Wurzel des Leidens sein
    mögen sie nicht vom großen Glück getrennt sein,
    in dem es kein Leiden gibt,
    mögen sie in großem Gleichmut,
    frei von Leidenschaft, Aggression und Vorurteil leben

    Die Lehre Buddhas besagt, dass „das Selbst im Selbst Zuflucht nimmt“, daher ist dieses traditionelle Gebet ist nicht an eine höhere Macht gerichtet. Das Selbst im Buddhismus strebt nicht nach Verwirklichung (wie im westlichen Sinne), sondern nach einem Zusand, an dem nichts mehr an ihm haften kann. Der Buddhist kennt keinen Gott, der für ihn alles zum Guten lenkt. Und auch Buddha ist kein Heilsbringer, sondern lediglich ein Wegweiser. Der Mensch selbst muss den Weg auf sich nehmen. Der Buddhismus ist eine Religion ohne Gott.  

    Paul Klee | Wäre ich ein Gott, zu dem man betet

    Wäre ich ein Gott, zu dem man betet,
    ich käme in die größte Verlegenheit,
    von einem Tonfall des Bittenden irgendwo gerührt zu werden.
    Sobald das Bessere nur leise anklänge,
    würde ich gleich Ja sagen,
    «stärkend das Bessere mit einem Tropfen von meinem Tau».
    Somit würde von mir ein Teilchen gewährt,
    und immer wieder nur ein Teilchen,
    denn ich weiß ja sehr wohl,
    daß das Gute in erster Linie bestehen muß,
    aber doch ohne das Böse nicht leben kann.
    Ich würde also in jedem einzelnen
    die Gewichtsverhältnisse der beiden Teile ordnen,
    bis zu einem gewissen Grad der Erträglichkeit.
    Revolution würde ich nicht dulden,
    wohl aber zu ihrer Zeit selbst machen.
    Daran sehe ich, dass ich noch kein Gott bin.

    Ich wäre auch leicht, und mir dessen bewusst, zu überlisten.
    Ich wäre rasch im Verleihen eines Ja, einem kurzen
    Tone im Gebet gegönnt, welcher rührte.

    Gleich darauf wär ich imstande,
    sehr inkonsequent zu handeln,
    und mich zu verwandeln
    in das Ungeheuer Schauer,
    welcher liegt auf solcher Lauer,
    daß es dann gibt Trauer
    in Familien, wo sein Gift
    gerade trifft.

    Viel historisches Theater wollte ich auch machen,
    die Zeiten würden losgebunden von ihrem Alter,
    das wäre ein Durcheinander zum Lachen.
    Aber mancher wäre entzückt,
    – hätt ich zum Beispiel je einen irrenden Ritter
    draußen im Busch gefunden,
    ich war beglückt! –.

    Ein bisschen narren würd ich die Leutchen auch zuweilen
    und gäbe ihnen in der Labung Ätzung,
    in der Nahrung Zersetzung –
    und Schmerz in der Paarung.
    Ich stiftete einen Orden,
    im Banner die lustig hüpfende Träne.

    Aus: Paul Klee – Gedichte / Neue erweiterte Ausgabe 1980
    Verlag der Arche – Zürich
    Isbn: 3-7160-1650-0

    …wird fortgesetzt

  • Kurt Marti | Zärtlichkeit & Schmerz

    Kurt Marti | Zärtlichkeit & Schmerz

    «Jeder Terror rechtfertigt sich mit objektiver Notwendigkeit. Um so mehr gilt es, unbeirrt subjektiv zu sein.»

    Kurt Marti

    Dieses Buch von Kurt Marti aus dem Jahre 1979 trägt den Titel : Zärtlichkeit und Schmerz | Notizen. Die Formulierung wirkt auf eine überraschende, fast provokative Art emotional und subjektiv, was umso mehr auffällt, als der Autor sonst einen mehr sachlichen Ton bevorzugt und übrigens seit jeher als einer der profiliertesten Vertreter der sogenannten «engagierten» Literatur angesehen wird. Sein ProsaWerk, das politische Tagebuch «Zum Beispiel Bern 1972» gilt als ein Höhepunkt der politisch gerichteten Literatur der 1960er Jahre; es hat seinerzeit auch entsprechend Staub aufgewirbelt (auch wenn sich dadurch die Verhältnisse nicht geändert haben).
    Politik und Subjektivität, das Allgemeine und der Einzelne, das Öffentliche und das Private sind in der schweizerischen Literatur nie getrennte Bereiche gewesen, am wenigsten in den wirklich bedeutenden und repräsentativen Werken. Das literarische Schaffen Martis ist ein Beispiel dafür.

    Schon «Zum Beispiel Bern 1972» ist bewusst als Tagebuch konzipiert und nicht etwa als Pamphlet; es enthält nicht nur Polemik, sondern zugleich den Ansatz zu einer Art «Innerlichkeit der Politik» (am deutlichsten vielleicht in der Frage, ob Menschen verschiedener politischer Richtungen auch unterschiedliche Träume hätten). In «Zärtlichkeit und Schmerz» finden sich ebenfalls viele tagebuchartige Passagen und eine stark persönliche Färbung.

    Das Buch in meinem Bucherregal

    Der Titel bezieht sich nicht auf das Erleben des Autors; er gehört vielmehr in den theologischen Kontext des Buches, als Teil einer Neudefinition Gottes, der in dezidierter Ablehnung der «männlichen» Vorstellung eines allmächtigen, überhaupt eines mit dem Machtbegriff zu erfassenden Gottes identifiziert wird mit «Liebe, Zärtlichkeit, Schmerz».
    So ist denn dieses Werk Martis ein primär theologischer Text, anzugehen mit den entsprechenden Begriffen und Fragestellungen?

    Vielleicht ist tatsächlich seit den «Gedichten am Rand» das Theologische in seinen Büchern nie so deutlich, so explizit formuliert worden, aber was hier als Theologie auftritt, ist so unorthodox und unkonventionell, dass jede nicht-theologische Interpretation ebenso richtig, vielleicht sogar passender ist. Dies auf den ersten Blick so einfache, verständliche, ja umgängliche Buch ist im Grunde ein umfassendes Werk, ein Versuch, in einer Vielzahl von kurzen Texten (Ansätze zu Erzählungen, Mini-Essays, Aphorismen, spruchartige Sätze, lyrische Prosa, Blitzlichter der Beobachtung) Vielfältiges und Gegensätzliches zusammenzubringen; ein verwirrendes und doch sinnvolles Puzzle, Spiegelung eines vielfältigen Eindrücken ausgesetzten zeitgenössischen Bewusstseins.

    Allmacht | Gott kann nicht einmal abdanken, d.h. einer Machtposition entsagen, weil er eine solche nie innegehabt hat.

    Ein Tagebuch ist es allerdings nicht; die Form ist trotz des beiläufig anmutenden Untertitels strenger und anspruchsvoller: die Notizen enthalten, was sich dem Tag an Erkenntnis abgewinnen lässt, die den Tag überdauert, ohne ihm doch entrückt zu sein, geformt und fragmentarisch zugleich. Ob alles an diesen Einfällen, Beobachtungen, Gedanken des Aufzeichnens wert sei – ich habe die Frage mit dem Ton des Zweifels, der leisen Kritik gehört, und es gibt gewiss unter den aphoristischen Bemerkungen ein paar mehr beiläufig formulierte Sätze, die allein das Buch nicht tragen könnten, es freilich auch nicht tragen müssen. Aber vielleicht sind in einem Buch wie «Zärtlichkeit und Schmerz» auch die beiläufigen Bemerkungen ein rascher Einfall, eine halb spielerische Formulierung, Ausdruck des Ärgers notwendig. Denn die «Notizen» sollen auf keinen Fall gelesen werden als eine Blütenlese von Sentenzen, überzeitlich und vollkommen.
    Noch in keinem bisherigen Buch Martis hat der Alltag eine so wichtige Rolle gespielt wie hier, und wenn es sich auch um ein im wesentlichen theologisches Buch handelt, dann nur in dem Sinn, dass Theologie den Alltag und dessen Banalität nicht ausklammert.

    «Der Tiefenpsychologie verdanken wir die Einsicht, dass die wahren Mysterien weder eleusisch noch tibetanisch, weder transzendent noch okkult, sondern alltäglich sind»: ein nicht leicht zu deutender, jedoch zentraler Satz.

    Es gibt sehr wenig reine Spekulation in diesem Buch, aber sehr viel Nachdenken über grundsätzliche, sogenannte «letzte» Fragen aufgrund von Alltagserfahrungen. Unter dem Titel des vierten Kapitels «Hader mit Leibniz» steht nicht etwa ein philosophisches Streitgespräch, sondern die Erfahrung eines alten Mannes, der am Sterbebett seiner Frau (die nur noch in «arteriosklerotischer Bosheit dahindämmert») den leicht, aufklärerischen Traum von der besten aller möglichen Welten begräbt.
    So wenig aber Theologie und Alltag getrennte Bereiche sind, so wenig lassen sich – um noch einmal auf die eingangs aufgeworfene Frage zu Politik und Subjektivität kommen – voneinander lösen. Ich möchte sogar behaupten, dass «Zärtlichkeit und Schmerz» über eine gehörige politische Kraft verfügt, nicht wegen der im eigentlichen Sinn politischen Sätze, sondern gerade in den scheinbar nur subjektiven Notizen der Selbstbeobachtung, der auf das Ich und seine unmittelbare Umwelt bezogenen Reflexion.

    «Jeder Terror rechtfertigt sich mit objektiver Notwendigkeit. Umso mehr gilt es, unbeirrt subjektiv zu sein.»

    Es gehört für mich zu den Büchern, die beweisen, dass Subjektivität und Politik tatsächlich nahe zusammengehören können, und ist gerade in diesem Punkt repräsentativ für Veränderung des politischen Klimas. Mit den Begriffen «links» und «rechts» – die vor Jahren noch einigermaßen tauglich waren – ist dem Engagement des Schriftstellers nicht beizukommen: es ist komplexer, reicher geworden, dabei aber keineswegs weniger verbindlich, weniger ernst: als Auflehnung des Lebendigen gegen eine Welt der Leistung, des Spiels gegen die Herrschaft der Technik, der Unruhe und Frage gegen die falschen Sicherheiten, der Liebe gegen das Machtdenken.

    Die Notizen Martis enthalten viel von den Gedanken, auch von der Atmosphäre der späten 1970er Jahre; was sie aber nicht enthalten obgleich der Autor sehr genau darum weiß ist: Resignation. Vielmehr findet immer wieder Auflehnung gegen diese Krankheit der Zeit statt, bei aller Skepsis, bei allem Widerstand gegen falsche Hoffnungen. Um noch einmal auf den theologischen Aspekt des Buches zu kommen:

    «Gott? Jener Große, Verrückte, der noch immer an den Menschen glaubt.»

    Der Autor || Kurt Marti (* 31. Januar 1921 in Bern; † 11. Februar 2017 ebenda) war ein Schweizer Pfarrer und Schriftsteller. Er studierte Jura und Theologie in Bern und Basel. 1977 wurde er zum Ehrendoktor der Universität Bern ernannt. 1979 erhielt er den Kurt-Tucholsky-Preis. Seine Gedichte wurden in 14 Sprachen übersetzt.

  • „Macht denn nur das Blut den Vater?“

    „Macht denn nur das Blut den Vater?“

    Vater – Bezeichnet einen männlichen Elternteil eines Menschen; seine Vaterschaft kann sich auf einen, zwei oder alle drei Teilbereiche der Elternschaft beziehen:Der biologische, rechtliche und soziale Vater…erweitert wird die klassische Definition um den Vater im übertragenen Sinne.

    Da ist der leibliche Vater,
    der als Despot wirkt und zugleich feige ist;
    der körperliche und geistige Distanz lebt;
    der zu predigen als Dialog versteht.

    Und da sind meine Kinder, diese geliebten Fantasten, die in mir ihren Vater sehen wollen.

    Und wie ist das mit einem ewigen Vater?

    BuchCover – Oktagon Verlag

    Ein Cover, das mich wiederholt in seinen Bann zieht.

    Mutter Kind Vater – Bilder aus Kunst und Wissenschaft
    Hg: Johannes Bilstein; Eckart Liebau; Matthias Winzen

    Dieser Gesamtband enthält (modifiziert) die drei Teilkataloge der Trilogie „Mutter, Kind, Vater“. Die Einzelbände erschienen anläßlich der Ausstellungen „Macht und Fürsorge – Das Bild der Mutter in der zeitgenössischen Kunst“ in der Trinitatiskirche, Köln (21.8. – 16.10.1999), „Vergiß den Ball und spiel` weiter – Das Bild des Kindes in der zeitgenössischen Kunst“ in der Kunsthalle Nürnberg (21.10.1999 – 9.1.2000) und „Dein Wille geschehe. – Das Bild des Vaters in der zeitgenössischen Kunst“ in der Kunsthalle Nürnberg (19.2. – 16.4.2000). Die Künstler: Joseph Beuys, Marlene Dumas, Valie Export, Martin Kippenberger, Pipilotti Rist, Cindy Sherman, Mike Kelley, Paul McCarthy, Marcel Broodthaers, Albert Oehlen, Gerhard Richter, [und weitere].

    Ein abgewandeltes >Vater unser< von Kurt Marti

    unser Vater
    der du bist die mutter
    die du bist der sohn
    der kommt
    uns anzuzetteln
    den himmel auf erden
    dein name möge kein hauptwort bleiben
    dein name werde werde bewegung
    dein name werde in jeder zeit konjugierbar
    dein name werde tätigkeitswort
    bis wir loslassen werden
    bis wir erlöst werden können
    damit im verwehen des wahns komme dein reich
    in der liebe zum nächsten
    in der liebe zum feind
    geschehe dein wille –
    durch uns.

    Kurt Marti (1921 – 2017), Schweizer Pfarrer, Jurist und Schriftsteller.

    „Macht denn nur das Blut den Vater?“ – Gefunden bei Gotthold Ephraim Lessing in seinem Nathan der Weise [V, 7 / Recha].

    …wird fortgesetzt.

  • Vera Lebert-Hinze | Flugtuch der Träume

    Vera Lebert-Hinze | Flugtuch der Träume

    Diesen kleinen Lyrikband habe ich in einem öffentlichen Bücherschrank entdeckt. Der Titel weckte meine Neugier, da mir das Wort „Flugtuch“ nur vage vertraut war. Die darin enthaltenen Gedichte setzen sich häufig mit dem „Herbst des Lebens“ auseinander – mal tröstlich, mal resigniert, aber auch auflehnend. Sie wirken wie Selbstreflexionen, möglicherweise inspiriert durch Träume, und spielen mit dem Gefühl der Ahnung.

    Leider konnte ich die Autorin nicht kontaktieren, was ich gern getan hätte. Seit 2003 scheint sie sich nicht mehr literarisch zu äußern.

    Was mich besonders an diesen Gedichten fasziniert, ist mein spontaner Impuls, sie weiterzudenken. Ich greife instinktiv zum Füller, erweitere, verdichte, formuliere um und lenke sie in neue Richtungen. Dieser kreative Drang ist selten und macht den Band für mich besonders reizvoll.

    Eines meiner Favoriten aus diesem Band:

    Annähernd gelesen

    Struktur und Form Das Gedicht besticht durch seine knappe, fragmentarische Form. Die ungewöhnliche Anordnung der Wörter und die ausgedehnten Zeilenbrüche schaffen eine offene Struktur, die den Leser einlädt, eigene Interpretationen vorzunehmen. Die Fragmentierung vermittelt einen Eindruck von Unvollständigkeit und lässt Raum für Assoziationen.

    Sprachliche Bilder und Metaphern Der Begriff „echolos“ in Verbindung mit „Nebel“ eröffnet ein Spannungsfeld zwischen Präsenz und Unklarheit. Der Nebel symbolisiert dabei möglicherweise einen Zustand der Unsicherheit oder des Übergangs. Die Erwähnung des „verhangenen Gipfels“ erzeugt ein Bild eines fernen, vielleicht unerreichbaren Ziels, während das Wort „Alphabet“ als Metapher für grundlegende, elementare Strukturen in Sprache und Leben erscheint. Die abschließende Zeile, in der „die Höhe steinerne Sprache spricht“, verleiht dem Gedicht eine fast mystische Dimension: Hier wird angedeutet, dass es eine uralte, unveränderliche Ausdrucksweise gibt, die jenseits der gewöhnlichen Kommunikation liegt.

    Symbolik und Interpretation Das Zusammenspiel der Naturbilder (Nebel, Gipfel, Höhe) mit sprachlichen Elementen (Alphabet, Sprache) regt dazu an, über die Verbindung zwischen innerer Erfahrung und äußeren Erscheinungen nachzudenken. Die Natur fungiert als Metapher für emotionale und existenzielle Zustände, während die Sprache als Medium erscheint, diese Zustände zu erfassen und auszudrücken. Das Gedicht könnte als Aufforderung verstanden werden, die oft verborgenen Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Emotion und Ausdruck zu erkunden.

    Insgesamt schafft das Gedicht durch seinen minimalistischen Stil und die dichte Symbolik eine mystische Atmosphäre. Es regt an, über die tiefere Verbindung zwischen Natur, Sprache und menschlicher Erfahrung nachzudenken – ein kreativer Impuls, der auch meinen eigenen Drang, Texte weiterzuentwickeln, beflügelt.

    Vera Lebert-Hinze | Flugtuch der Träume
    Reihe Manuskripte #93 | 1984
    Gauk-Verlag (Diesen gibt es in dieser Form nicht mehr.)
  • Alfred Lichtenstein | Wehmut

    Alfred Lichtenstein | Wehmut

    Ich hab’ einen Hass, einen grimmigen Hass
    Und weiß doch selbst nicht recht auf was.

    Ich bin so elend, so träge und faul
    Wie ’n abgeschundner Ackergaul.

    Ich hab’ einen bösen Zug im Gesicht.
    Mir ist niemand Freund, ich will es auch nicht.

    Ich hab’ eine Wut auf die ganze Welt.
    In der mir nicht mal mehr das Laster gefällt.

    Und schimpfe und fluche, ich oller Tor
    Und komme mir sehr dämonisch vor.

    (Frühe Gedichte)

  • Haiku #55

    Haiku #55

    Die Worte saßen
    auf der Schaukel unschuldig
    baumelnde Beine

  • Haiku #54

    Haiku #54

    Flickwerk der Liebe
    mir in das Gesicht geklatscht
    nieselregenfein

  • Christus || Ein Interview

    Christus || Ein Interview

    Die Amerikaner sind bekanntlich sehr neugierig.Seit Jahren schreibe ich für ein Kunstblatt jenseits des Ozeans Ausstellungsberichte, Kunstbriefe und alles, was sonst dazu gehört, die wissensdurstige Seele des »gebildeten Laien«, der sich für Kunst interessiert, einmal im Monat zu sättigen.Jetzt ist das nicht mehr sensationell genug. Man will mehr – anderes.
    Die Redaktion verlangte zuerst »Intimes aus dem Leben der großen Künstler« – modern Intimes natürlich – und neuerdings soll ich auch noch interessante Details aus dem Leben der Modelle und ihrem Verhältnis zur Künstlerwelt bringen.
    Mir ist alles recht. Ich bin ein zufriedener Mensch und möchte auch andere zufrieden stellen. Nach längerem Bemühen ist es mir geglückt, das Notizbuch eines »vielversprechenden Genies« in die Hände zu bekommen. Die darin verzeichnete Modelliste sollte mir als Richtschnur meiner demnächstigen Recherchen dienen.

    Aber nun die richtige Auswahl zu treffen:
    1. Walburga Stümpfl, als Giftmischerin beliebt, sehr grün im Ton.
    2. Crescenz – Nachname fehlt im Notizbuch – stilvoller Rokokoakt.
    3. Anna Huber, sehnsüchtiges Profil, sehr geeignet zum Stilisieren.
    4. Adalbert Apfelkammer, Athlet und Ringkämpfer, kolossaler Bizeps, unglaubliche Deltamuskeln.
    5. Marie Mayr, famose Zierleiste für die »Jugend«.
    6. Clemens Brückner, hinterlistiger Priester etc.

    Du lieber Gott, die Auswahl ist einfach überwältigend reich, da kann’s nicht fehlen.
    Tagelang stieg ich treppauf, treppab. Modelle interviewen ist keine Kleinigkeit, sie sind nie zu Hause. Ich begab mich also auf den Rat eines erfahrenen Freundes zu einer Vormittagsstunde an die Stufen der Akademie. Aber ich hatte wieder Pech. Die Stunde war entschieden unglücklich gewählt. Es war nur ein schwerhöriger alter Mann da und einige zerlumpte Italienerweiber. Den letzteren schien es sehr am Herzen zu liegen, von mir interviewt zu werden, aber da sich meine Kenntnisse der italienischen Sprache auf: »Si Signora« und »Non capisco« beschränken, konnten wir zu keinem befriedigenden Resultat gelangen.

    Schon wollte ich verzagt und um eine Illusion ärmer dem Tempel der Kunst den Rücken wenden, als ich auf einen großen, hageren Mann aufmerksam wurde, der in einen flatternden Havelock eingehüllt mit majestätischem Schritt die Treppe herauf kam.
    Ich hielt ihn erst für einen Königlichen Professor, so gebieterisch war sein Auftreten, so lang und wallend sein Haupthaar.
    Als er sich aber schließlich neben den Italienerinnen auf die Balustrade niederließ, fasste ich Mut. »Sie stehen Modell?«
    »Jawohl, jewiss, ich bin der Christus – braucht der Herr –«
    »Wie heißen Sie?«
    »Friedrich Wilhelm Köppke – wenn der Herr mit Kostüm wünscht« –
    Er machte mich auf eine große Pappschachtel aufmerksam, die er unter dem Arm trug – »brauner Mantel, dunkelrotes Unterkleid« –
    »Sie sind nicht von hier?«
    »Ne, ich bin aus Berlin, mit Spreewasser jetauft, aber ich bin schon lange hier.«
    Er zerrte wieder an der Schachtel.
    »Lassen Sie nur, lassen Sie nur – wo haben Sie das Kostüm denn her?«
    »Das hab‘ ich mir auf der Auer Dult jekauft, sechs Mark hat es jekostet, aber schön ist es auch.« –
    Er riß die Schachtel auf und wollte den Havelock abwerfen.
    »Warten Sie, warten Sie, es pressiert nicht. – Wie lange sind Sie schon Modell?«
    »So an die sechs, sieben Jahre.« –
    »Und was trieben Sie vordem?« –
    »Da hab ich ’ne Jeschäft jehabt –«
    »Was denn für ein Geschäft«, das Vorleben meines Christus war doch jedenfalls nicht ohne Interesse.
    »Na, wissen Sie, ich bin so in die Wirtshäuser rumjegangen und hab‘ mit wollne Hemden hausiert, aber das bringt –«
    »Und wie kam es, dass Sie Modell wurden?«
    »Das Jeschäft ist nich mehr recht jejangen und dann mit die langen Haare hab‘ ich mir jedacht –«
    »Trugen Sie denn das Haar früher schon so lang?« Mit Bewunderung betrachtete ich seine Mähne.
    »Ja, wissen Sie, ich hab‘ das Reissen jekriegt von den vielen Zug und da hab‘ ich mir das Haar wachsen jelassen und dann haben mir die Freunde jesagt: laß dich doch malen, Fritze, du hast ja den schönsten Christuskopp, daß der Herrgott seine Freude dran haben könnte. So was suchen die Herrn Kunstmaler jrade.«
    »Und da wurden Sie Christusmodell
    »Ja, da hab‘ ich die wollnen Hemden Hemden sein jelassen und bin in die Ateliers rumjejangen und bin ein sehr beliebter Christuskopf jeworden.«
    »Sind Sie denn hier das einzige Christusmodell?«
    »O ne, jewiss nicht. Seit der Uhde anjefangen hat, seine biblischen Bilder zu malen, da haben se noch einen modernen Christus uffjeangelt, der hat so langes straffes Haar und so ein schlichtes Jesicht. Das ist der Aois Brüllmayr, der hat mir ne janz jefährliche Konkurrenz jemacht. Überall muß Konkurrenz sein heutzutage.«
    »Das Modellstehen muß doch recht anstrengend sein, was?«
    »Na, davon könnte ich Sie ein Lied singen. Anstrengend ist die Jeschichte, aber es rentiert sich. Da hab‘ ich zuweilen ans Kreuz müssen, mit so ’n Jerüst, wissen Sie. Mit ausjebreiteten Armen und die Ojen verdrehen, jehört allens dazu von wegen den schmerzlichen Ausdruck. Aber jetzt bin ich zu alt und zu steif dazu. Es jeht nich mehr so. Da steh ich nur Kopp und es wird ein anderer jekreuzigt.«
    »Haben Sie denn immer Beschäftigung? Es wird doch nicht alle Tage ein Christus gemalt.«
    »Na, da kennt sich der Herr aber schlecht aus, da sind Sie jewiss kein Kunstmaler. Heutzutage muß doch jeder ’n Christus jemalt haben. Das is jetzt jrade die neuste Mode, mit das Biblische. Ne Zeit lang, so vor ’n paar Jahren, da war’s schlimm, da hat niemand mehr ’nen Christus jemalt. Da haben sie alle Ölein-Air jemacht. Da war nischt zu haben für unsereinen. Lauter jrüne Wiesen und lila Bäume und die Menschen dadrin alle nackich. Das war ’ne schlimme Zeit, da hab‘ ich nur Kopp jestanden in die Schulen und mit ’n Christus war jarnischt.« »Na, und jetzt? Die moderne Richtung?« – »O jetzt is viel besser jeworden. Symbolistisch muß sin, sagen die Herren. Das is Mode. Und Mode is in der Kunst jrad‘ so gut wie sonst im Leben. Jetzt machen sie Ihnen ’nen altdeutschen Christus, wie ’n die alten Meister jemalt haben, denn das sind doch immer die jrößten jewesen, sagen sie. Da machen sie Ihnen die Haare janz lang und jrad‘ wie Schlangen und die Dornenkrone janz spitz und was die janz Neusten sind in der Malerei, die machen ’nen stilisierten Christus, da ziehen sie Ihnen det Jesicht in die Länge und die Dornenkrone kommt vom Kopp und auf beiden Seiten wird auch in die Länge jezogen und –«

    Mich befiel eine stille Furcht, Christus möchte mich auch noch über das Wesen der Renaissance oder des Rokoko belehren, und ich unterbrach ihn:
    »Sind Sie denn schon oft zu großen Bildern gestanden?«
    »Na und ob – det will ich meinen. Ich häng‘ Ihnen schon in alle möglichen Jalerien und Pinakotheken. Einmal am Kreuz mit die beiden Schächer. Das is sehr schön jewesen. Was die beiden Schächer waren, das sind ein paar Athleten jewesen. Die haben Sie gehangen, det es eine Freude war. Und dann mit der Magdalene. ›Christus und die jroße Sünderin‹ hat’s geheißen.«
    »Wer war denn die Magdalena?«
    »Das is die Josephine Zimmerer jewesen, oder wie sie heißt. Das is ein Mädel jewesen. Immer hat sie ihre Jeschichten mit den Malern jehabt. So janz rotes Haar hat sie. Ich kann ’s nich so schön finden, aber den Herren hat ’s jefallen und über Jeschmack läßt sich nicht streiten. ›Der reine Tizian‹ haben sie immer jesagt.« Allen Respekt. Christus imponierte mir immer mehr.
    »Sie verstehen wohl bald eben soviel von der Kunst wie die Maler selbst, Christus?« »Ja, wenn ich die Kunst nich hätt‘. Ich schwärme für alles, was Kunst ist. Das is meine jrößte Freude. Und Jeld bringt’s auch ein.«
    »Was verdienen Sie denn so im Durchschnitt am Tage?«
    »Na, sehen Sie, das schwankt so hin und her. Was die jroßen Meister sind, die berühmten, die zahlen mehr. Und dann kommt’s auf die Stellung an, fürs Kreuzigen hat’s eine Mark jejeben die Stunde. Jott Strambach, das sind schöne Zeiten jewesen! Aber für jewöhnlich jiebt’s nur 50 Pfennige für die Stunde, wenn man bloß Kopp steht.« Du mein Gott, dacht‘ ich, während Christus sich noch des Näheren über seine Lohnverhältnisse verbreitete, viel, viel »Interessantes« ist aus dem Manne nicht herauszukriegen. Was soll ich nur in meinen Artikel hineinschreiben? Und dazu macht mich sein Dialekt nervös – ich hatt‘ auf irgendeinen biederen Bajuwaren gehofft, dafür interessiert man sich doch heutzutage viel mehr. Es klingt viel origineller. – Ich musste entschieden noch etwas »Intimes« herausbringen.
    »Christus«, sagte ich deshalb eindringlich, »Sie wissen wohl recht viel von dem Leben der Künstler, so von dem Privatleben. – Als Modell müssen Sie doch recht oft Gelegenheit haben, hinter die Kulisse zu schauen.«
    »Na«, sagt Christus mit großem Nachdruck, »wir Modelle, wir sehen alles, wir hören alles, wir sind bei allem dabei, aber wissen tun wir jarnischt, wir sind diskret. Ich könnt‘ Ihnen da Jeschichten erzählen – aber wir Modelle müssen diskret sein, sonst is jarnischt mehr, sonst werden wir abjeschafft.«
    »Na ja, aber wissen Sie, Christus, ich bin fremd hier. Ich gehe in ein paar Tagen wieder fort. Mir können Sie schon etwas erzählen. Ich bin Journalist, da muss man auch oft diskret sein. – – Es muss doch oft recht fidel hergehen unter den Künstlern, was?«
    »Na ja, fidel, det will ich Sie jlauben. Da liebt man sich und wird jeliebt, det is die reine Wonne und Herrlichkeit.«
    Mein Christus machte ein ganz pfiffiges Gesicht und zwinkert mit den Augen. Mich ärgerte nur, dass er so zugeknöpft war. Ich hätte so gerne etwas Pikantes erfahren.
    Noch einen Versuch wollt‘ ich machen. So ein Liebesroman zwischen einem weltbekannten Genie und der rothaarigen Tizian- Magdalena – famoser Mittelpunkt für meinen Artikel: ›Modelle und Künstler, Interieurs aus der Münchner Moderne.‹ Das Herz wurde mir ganz groß.
    »Na sagen Sie mal, Christus – Sie haben mir vorhin von der Magdalena erzählt, die den Malern so gefällt, die wird wohl viel geliebt haben, was?«
    Ich schlug meinen jovialsten Ton an, aber Christus blieb ungerührt. –
    »Det hab‘ ich Sie doch schon jesagt. Jetzt hab‘ ich sie schon lange nicht mehr jesehen, aber früher, als ich mal mit ihr jestanden bin. Da hab‘ ich alle ihre Jeheimnisse jewußt.« – Er zwinkerte wieder verständnisvoll – und fuhr fort:
    »Ich hab‘ ihr damals noch sozusagen zum moralischen Halt jedient. Manchesmal hab‘ ich ihr ins Jewissen jeredt‘. Magdalena, hab‘ ich ihr jesagt, Jugend hat keine Tugend, des weess ich auch. Ich bin auch mal jung jewesen und habe keine Tugend jehabt, aber jetzt bin ich Familienvater und kenne die Welt. Mach’s nicht zu schlimm, Magdalena, sonst kommste noch unter den Leierkasten. Aber sie hat es immer sehr leicht jenommen. ›Schaugt’s den Christus an‹, hat sie jesagt und dann haben sie alle jelacht. Na, ich sage Ihnen.« –
    »Mit wem hat sie denn?«
    »Na, mit allen hat sie Jeschichten jemacht. Sie hat eben für ’ne Schönheit jejolten, aber was die Herren waren, ›Christus‹, haben sie jesagt, ›wir wissen, daß Sie diskret sind‹. – Na, diskret muss man sein.« –
    Er lächelte bedeutungsvoll und zog seine Visitenkarte hervor, die er mir feierlich überreichte: »Friedrich Wilhelm Köppke, Katzmaierstraße 16, IV«, darunter stand geschrieben: »Im Besitz eines neuen Christus- Kostüms, dunkelrotes Unterkleid, brauner Mantel, Sandalen etc. empfehle mich den Herren Kunstmalern als Christusmodell.« »Eine schöne Handschrift haben Sie, Christus«, sagte ich bewundernd.
    »Das hat meine Jette geschrieben, was meine Älteste is«, sagte er, »die steht auch schon Modell, aber ich laß sie nur Kopp stehen, ›wenn man Familienvater ist‹ –.«

    Ich sah auf meine Uhr und verabschiedete mich von Christus, indem ich ihm einen Zwanziger in die Hand drückte. Er steckte denselben voll Würde dankend ein und hüllte sich fester in seinen Havelock, denn es war kalt.
    Ich entfernte mich langsam und einigermaßen deprimiert. Mein Artikel war an der starren Moral und unbeugsamen Diskretion des Christus gescheitert.

    Quelle: Franziska zu Reventlow | Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel
    Herausgeber | Else Reventlow

    Titelbild:  Edward Okuń, Chimäre || Farblithographie, 1903

  • Haiku #27

    Haiku #27

    Wenn der Traum durch mich
    fließt wie Tinte im Wasser
    Herzrhythmusröte

  • Mein Leben als Schachpartie

    Mein Leben als Schachpartie

    Mein Leben glich bis heute einer Partie Schach, die ich mit einem taktlosen Gegner spielte. Keinen Zug konnte ich tun, ohne dass er mir wegnahm, was er nehmen konnte – ohne eigenen Plan und ohne einen solchen bei mir zu erkennen. Und mir, dem es nicht auf das Gewinnen, sondern auf den Reiz des gefühlvollen Spiels ankam, war es nicht möglich, auf seine Spielart einzugehen.

    Ich ließ ihm seine Figuren, und nahm sie im selben Grade weniger, als ich sie bequem schlagen konnte. Er aber hüpfte raublustig in meinem Spiel umher, auf meine Art bauend, und sie für unbegreifliche Dummheit haltend. So konnte ich keine Partie gewinnen. Zornig stieß ich mehr als einmal das Brett um, auf das nächste Spiel bauend. Bis heute, da fällte ich den Eröffnungsbaum.

    Die Figur, die ich in den letzten Jahren verkörpert hatte, war nicht die meine gewesen. Ich hatte mich in einer Strategie verloren, die mir nicht lag, in einem System gefangen, dessen Regeln mir fremd geblieben waren. Doch mit jedem umgestoßenen Brett, mit jedem neuen Versuch war mir eine Erkenntnis gewachsen, die ich lange nicht greifen konnte: Das Spiel war nicht vorgegeben. Die Züge nicht unumstößlich. Und der Gegner? Vielleicht gab es ihn gar nicht.

    Heute fällte ich den Eröffnungsbaum, nicht in Wut, sondern in Einsicht. Ich hatte es zugelassen, dass fremde Züge mein Spiel bestimmten. Doch nun stand ich da, die Axt noch in der Hand, und betrachtete das leere Brett. Kein Gegner mehr, keine gezwungenen Züge. Nur Möglichkeiten.

    Langsam, beinahe zögerlich, setzte ich die Figuren neu. Dieses Mal würde ich sie so stellen, wie es mir gefiel. Vielleicht ein asymmetrisches Muster. Vielleicht mit eigenen Regeln. Vielleicht ganz ohne Schwarz und Weiß. Und während der Wind durch die Überreste des gefallenen Baumes strich, wusste ich: Mein Spiel begann erst jetzt.

  • Was machen Menschen, wenn sie allein sind?

    Was machen Menschen, wenn sie allein sind?

    Was machen Menschen, wenn sie allein sind?
    Peter Panther || Der Uhu
    Oktober 1926 [Original Rechtschreibung beibehalten]

    Diese Frage hat Maxim Gorki einst gestellt, und er hat sie fast tragisch beantwortet. Vor allem: er hat sie für Russen beantwortet. Was aber tun brave Mitteleuropäer?
    Zunächst ist festzustellen, daß in dem Augenblick, wo der Mann allein ist, etwas von ihm fällt, eine dünne Haut – eine zarte Maske … Einer der größten deutschen Denker, Lichtenberg, hat einmal die Beobachtung aufgezeichnet, wie Menschen in Nebenstraßen ein anderes Gesicht aufsetzen als in Hauptstraßen. Daran ist viel Wahres. Was also tut der Mann, wenn er allein ist?
    Ist er ohne feste Beschäftigung, so wird fast jeder Mann um etliche Jahre jünger: er beginnt, wenn auch nicht zu spielen, so doch seinem Spieltrieb leise nachzugehen. Es ist viel Jungenhaftes, was sich da meldet. Ich glaube, daß kinematographierte Menschen, die allein sind und sich unbeobachtet glauben, zu dem Komischsten gehören müssen, was es gibt.

    Die Tür ist zugefallen, du bist allein. Was nun?

    Die Sache fängt für gewöhnlich damit an, daß man bei ganz vernünftigen Handgriffen mit etwas völlig Sinnlosem beginnt. (Ein kaum wahrnehmbarer Schleier von Irrsinn liegt auf Leuten, die allein sind.) Du nimmst die Bürste, das ist wahr – aber dabei hebst du einen Kamm auf, und wenn du auch nur eine Minute Zeit hast, balancierst du den ein bißchen, und wenn du nicht balancierst, dann fängst du an, irgend etwas in Reih und Glied zu legen, und wenn du nicht in Reih und Glied legst (was sehr beruhigt), dann trommelst du mit dem Nagelreiniger auf einer Seifenschale … Welcher Oberregierungsrat hätte noch nie im Bad mit dem Thermometer Schiffchen gespielt!
    Auch ist sehr schön, Männer, die allein sind, singen zu hören. Daß die Majorität so schön singt wie Suzanne Lenglen, mag noch hingehen. Aber was sie so singen! Zunächst: fünfzigmal dasselbe Lied, nein, denselben Liedfetzen, dieselben paar Takte, immer sentimentaler, immer falscher – immer im Rhythmus dessen, was sie grade tun … auch verwandelt sich der Text leicht in einen völlig wahnsinnigen Indianergesang:

    Valencia!
    Laß mich wippen, wippen, wippen
    auf den Klippen, Klippen, Klippen –
    mit der ganzen Kompanie –!

    Das klingt nach der einundsechzigsten Wiederholung ganz menschlich. Auch kann man es pfeifen Dann gibt es etliche, die sprechen sehr leise mit ihren Sachen. Es erhebt sehr, wenn man die Arbeit mit frommen Sprüchen begleitet. »Wo ist denn der Schuh? Wo ist den der Schuh?« (Jetzt kleiner Opernchor: Schuhschuh – Schuhschuh – Schuuhuuhuu –!) Dann: »Na da bist du ja! Vielleicht läßt du dich noch drei Stunden suchen. Hund!« (Rrrumms, an die Wand.) Großes Orchester: »Trararaaha –!« Gesprochen: »Das Zahnwasser ist alle.« Gejodelt: »Alléhallé –!« So an sonnigen Tagen.
    Für alle Tage aber gilt eines, das bei allen Alleinseiern zu beachten ist, wenn die nicht gerade in acht Minuten sich anziehen müssen, um ins Geschäft zu stürzen: das sind die amüsanten kleinen Umwege, die ihre Betätigung vornimmt. Sie macht Kurven, schlägt bogen, spielt unterwegs, verbraucht den Kräfteüberschuß, den jeder gesunde Mensch inne hat … Und das ist bei der Arbeit nicht anders.
    In Sinclair Lewis‘ herrlichem »Babbitt« steht zu lesen, wie der Held dieses amerikanischen Romans arbeitet, wie er Zettelchen vollschmiert, und ich bin überzeugt, daß wir alle so zu »malen« beginnen, wenn wir das tun, was wir mit Denken bezeichnen. (Es ist bekannt, daß die meisten Menschen keinem Redner zuhören können, ohne Männerchen zu zeichnen.) Es ist, als ob neben der eigentlichen Kraft des Arbeitsmotors noch ein Nebenstrom herliefe, der Schnitzel und Späne auf einer Säge produziert. Nutzen hat das keinen, aber ohne den Strom geht es auch nicht … Arbeitet einer mit andern zusammen im großen Büro, so läßt er seinen Eigenheiten im allgemeinen nicht so ungehinderten Lauf, hat er aber ein »Privatkontor», so schöpft er aus dem großen Reservebehältnis einer angeblichen Kraftverschwendung neue Kräfte. Dazu hat der mensch seine Nägel, die Ohren, die Krawatte – die Beschäftigung mit diesen Dingen stärkt sehr. Und aus der unergründlichen Tiefe eines Spiels mit dem Manschettenknopf und einem Blaustift steigen schwerwiegende Entschlüsse auf … Soweit die Männer, diese ewigen Jungen.

    Kinder sind oft allein, auch wenn sie gar nicht allein sind. Sie spielen, in einer Hülle von Jugend und Unbekümmertheit, die nur selten zerreißt: wenn sie Hunger haben oder sonst etwas wichtiges wollen.
    Was Frauen tun, wenn sie allein sind, ahne ich nicht. Ein Weiser hat behauptet, eine Frau sei überhaupt nie allein – sie stelle sich stets jemand vor, und sei es auch nur einen Spiegel. Ich denke, daß sich ein Mann da kein Urteil erlauben kann: denn ist er mit einer Frau allein, dann ist sie nicht mehr allein, er stört sehr, und so mag diese Frage eine Frau entscheiden.

    Suzanne Rachel Flore Lenglen (* 1899 in Paris; † 1938 ebenda) war eine französische Tennisspielerin. Sie dominierte in den frühen und mittleren 1920er Jahren das Damentennis. Ihre anmutige Spielweise und ihr außergewöhnliches Auftreten machten sie zu einem der ersten Weltstars im Sport. Zwischen 1919 und 1926 gewann sie 25 Grand-Slam-Titel.

    Kurt Tucholsky | Was machen Menschen, wenn sie allein sind?
    Foto: Harut Movsisyan via pixabay Lizenz CCO

error: Content is protected !!