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  • John Berger

    John Berger (1926–2017) war ein britischer Kunstkritiker, Romanautor, Maler und Dichter, dessen Werk die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Philosophie durchdrang. Bekannt für seine marxistische Perspektive und seine empathische Erzählweise, wurde Berger zu einer Schlüsselfigur der modernen Kulturdebatte. Sein Vermächtnis reicht von bahnbrechenden Kunstanalysen bis hin zu literarischen Werken, die das Leben marginalisierter Gemeinschaften feiern.

    Frühes Wirken und „Ways of Seeing“
    Berger, geboren in London, studierte Kunst und begann als Maler, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte. Sein revolutionärer Ansatz in der Kunstkritik gipfelte 1972 in der BBC-Serie und dem Buch Ways of Seeing („Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“). Hier dekonstruierte er die elitäre Tradition der Kunstbetrachtung und betonte den Einfluss von Macht, Reproduktion und Kapitalismus:

    „Seeing comes before words. The child looks and recognizes before it can speak.“
    Berger argumentierte, dass Kunstwerke durch Reproduktion und Kontext ihren ursprünglichen „Aura“-Verlust erleiden und zu Instrumenten ideologischer Manipulation werden. Ein Beispiel ist seine Analyse von Gemälden wie Gainsboroughs Mr. and Mrs. Andrews, das er als Ausdruck von Landbesitz und Klassenprivileg interpretierte.

    Literarische Werke und politisches Engagement
    1972 gewann Berger den Booker Prize für seinen Roman G., eine experimentelle Erzählung über einen modernen Don Juan vor dem Hintergrund historischer Umbrüche. Spektakulär spendete er die Hälfte des Preisgeldes den Black Panthers, aus Solidarität mit antikolonialen Kämpfen – eine Geste, die sein lebenslanges Engagement für soziale Gerechtigkeit unterstrich.

    In der Trilogie Into Their Labours (1979–1990) widmete er sich dem ländlichen Leben, inspiriert von seinem eigenen Umzug in ein Dorf in den französischen Alpen. Pig Earth (1979), der erste Band, verbindet Erzählungen über Bauern mit essayistischen Reflexionen über das Verschwinden traditioneller Lebensweisen. Berger schrieb nicht über die Landbevölkerung, sondern mit ihr, wie er betonte:

    „I wanted to write about peasants not as a sociologist or a politician, but as a storyteller.“

    Essayistische Arbeiten
    Berger arbeitete oft mit Fotografen wie Jean Mohr zusammen. In A Seventh Man (1975) dokumentierten sie das Leben migrantischer Arbeiter in Europa – ein Werk, das ökonomische Ausbeutung und Entfremdung sichtbar machte. Berger verstand Bilder als politische Werkzeuge:

    „Photographs bear witness to a human choice being exercised in a given situation.“

    In The Shape of a Pocket (2001) sammelte er Essays über Kunst als Akt des Widerstands. Über die Rolle des Künstlers schrieb er:

    „Art is a provocation, not a possession. It is a way of awakening something in us that might otherwise remain asleep.“

    Vermächtnis und Einfluss
    Berger lebte bis zu seinem Tod 2017 in Frankreich, engagiert in lokalen Gemeinschaften. Sein Werk bleibt ein Kompass für jene, die Kunst als Mittel der Empathie und des politischen Wandels begreifen. Der Schriftsteller Arundhati Roy nannte ihn „einen der größten Denker unserer Zeit“.

    John Bergers Fähigkeit, Sehen und Handeln zu verbinden, machte ihn zu einem besonderen Chronisten der menschlichen Conditio. Wie er in About Looking (1980) festhielt:

    „The relation between what we see and what we know is never settled.“

    Sein Werk fordert auf, diese Beziehung stets neu zu hinterfragen – mit Augen, die sehen, und einem Herzen, das kämpft.

  • Arcade ohne Feuer

    Arcade ohne Feuer

    Vielleicht hätte ich Ruth Klügers „Frauen lesen anders“ nicht als Orientierung nehmen sollen, denn so kam es zu einem Missverständnis, als ich Die Antiquarin von Sheridan Hay entdeckte. Ums Lesen aus der weiblichen Sicht geht es hier nicht. Dennoch lese ich es:

    Informationen zum Buch


    Winding veils round their heads, the women walked on deck. They were now moving steadily down the river, passing the dark shapes of ships at anchor, and London was a swarm of lights with a pale yellow canopy drooping above it. There were the lights of the great theatres, the lights of the long streets, lights that indicated huge squares of domestic comfort, lights that hung high in air.

    Meine Ausgabe: Unverkäufliches Leseexemplar.
    Fundort: Bücherschrank an der Bushaltestelle in Neu Darchau (Kein Hochwasser.)

    Titel: Die Antiquarin
    Autor: Sheridan Hay
    Genre: Roman
    Print-Ausgabe: 431 Seiten
    Ausgabe: Hardcover1. Auflage
    Verlag:  Verlag Kindler; 2007
    Sprache: Deutsch (Übersetzung: Judith Schwaab)
    ISBN: 978 3 463 40506 3

  • Berliner Trilogie. Drei Poeme | Aras Ören

    Berliner Trilogie. Drei Poeme | Aras Ören

    …ist bestellt…weil ich wissen will, in welchem Kontext das Leitzitat steht.

    „… Die Naunynstraße füllt sich mit Thymianduft, mit Sehnsucht und Hoffnungaber auch mit Hass.“ 

    „Was will Niyazi in der Naunynstraße“ ist ein Gedicht in Langform von Aras Ören (1973). Es bildet den ersten Teil seiner Berlin-Trilogie, zu der auch Der kurze Traum aus Kagithane (1974) und Die Fremde ist auch ein Haus (1980) gehören. 2019 – zu Örens 80. Geburtstag – wurden die drei Bände erstmals unter dem Titel Berliner Trilogie. Drei Poeme in einem Band veröffentlicht.

  • Hans Bemmann | Stein und Flöte

    Hans Bemmann | Stein und Flöte

    Die mir vorliegende Ausgabe ist fast zerlesen, so sagt man wohl: Die Bindung löst ich teilweise, es finden sich zahlreiche Flecken und Eselsohren. Warum ist es mit genommen habe? Ich vermute, weil mir ein Märchenroman bis dahin kein Begriff war. Was zeichnet einen solchen aus? Der Verlag sagt es so: Stein und Flöte wirkt wie ein orientalischer Märchenteppich. Er wählte das Phantastische um von der Wirklichkeit in der Tradition romantischer Märchen zu erzählen. – Muss es dann auch noch romantisch sein?

    Informationen zum Buch

    Stand: Mich annähernd – Lesetagebuch

    Der erste Satz

    In Fraglund wurde vorzeiten ein Knabe geboren, von dessen merkwürdigem Schicksal hier erzählt werden soll.

    Titel: Stein und Flöte und das ist noch nicht alles
    Autor: Hans Bemmann
    Genre: Roman
    Print-Ausgabe: 818 Seiten
    Ausgaben: E-Book, Taschenbuch
    Verlag:  Goldmann Taschenbuch; 1983
    Sprache: Deutsch
    ISBN-10: 3442410886

  • Aras Ören | Mitten in der Odyssee

    Aras Ören | Mitten in der Odyssee

    Über dieses Buch | Aras Ören spricht von sich, aber auch von seinen türkischen Freunden und Mitbürgern, die wie er in der Fremde zu Hause sind, wenn er schreibt: „Soll dieses Jahrhundert nicht am Galgen enden, dürfen wir nicht mehr von Grenze zu Grenze geschoben werden, mit dem Koffer in der Hand… .“
    Heimatlosigkeit und das Erlebnis der Fremde sind die Themen seiner »Odyssee«. In autobiographischen Poemen, in Gedichten vom Wein, von der Liebe, von Rosen und anderen Dingen, in poetischen Miniaturen aus osmanischen Märchen erzählt Aras Ören die Geschichte seines »Privatexils«, das ihn aus Istanbul nach West-Berlin und auf vielen Reisen durch Europa führte. In Berlin, der Fremde, fühlt er sich zu Hause, und ist auch die Melancholie „eine in (s)einem Inneren aufgehängte Mondsichel“, du „nimmst… deine Sprache mit. Sie wird dich in neuer Umgebung neu erschaffen, dich selbst: mit Leid, Hoffnung und Liebe.“

    Informationen zum Buch

    Herausgelesen:

    Biografische Notizen
    Das Hochwasser verlief sich,
    der Sand wurde gesiebt,
    drei Dinge blieben zurück:
    Hoffnung, darin
    Freude, darin
    Weisheit.

    Aus „Kapitel 1“

    Titel: Mitten in der Odyssee
    Autor: Aras Ören
    Genre: Lyrik, Gedichte
    Print-Ausgabe: 94 Seiten
    Ausgaben: E-Book, Taschenbuch
    Verlag:  Fischer Taschenbuch Verlag; 1983
    Sprache: Deutsch (Übersetzung: Gisela Kraft)
    ISBN-10: 3596257778

    Zugang: Buch antiquarisch erstanden.

  • The Brilliance of Frank Gehry’s Concert Hall

    The Brilliance of Frank Gehry’s Concert Hall

    The Los Angeles concert hall is a stunning example of Gehry’s signature style, which combines organic forms and metallic materials to create dynamic and expressive structures. The building’s exterior is composed of curved and angular panels of stainless steel, which reflect the light and the surrounding environment. The building’s shape evokes the image of a ship’s sails, or a musical instrument, depending on the viewer’s perspective and imagination.

    The interior of the concert hall is equally impressive, with its curved walls and high ceilings that create a spacious and elegant atmosphere. The auditorium is designed to enhance the acoustics and the intimacy of the musical performance, with a vineyard-style seating arrangement that places the audience close to the stage and around the orchestra.

    The concert hall is not only a place for music, but also a place for the public. Gehry envisioned the building as a “living room” for the city, a space that invites people to enjoy and interact with the architecture and the art. The building has several public areas, such as a garden, a cafe, a bookstore, and a gallery, that are open to visitors and offer views of the cityscape.

    The concert hall is a testament to Gehry’s ability to create a building that is both beautiful and functional, both innovative and respectful of its context. The building is a perfect example of how architecture can be used to create a space that is both inspiring and inviting, both artistic and accessible. The building is a true architectural marvel.

  • The Dance of Light and Shadow in Staircase Design

    The Dance of Light and Shadow in Staircase Design

    Staircases are not just a means of connecting different levels of a building. They also express the personality of the architect and the client. Modern staircases can be a statement of elegance and sophistication, a focal point of a space. Let’s explore how modern staircase design can use light and shadow to enhance the aesthetic appeal of a space.

    One of the most impressive examples of modern staircase design is the one in the Art Gallery of Ontario, designed by Frank Gehry. The staircase is made of wood and curves gracefully, creating a sense of fluidity and movement. The design is simple yet striking, with the wood panels creating a sense of warmth and natural beauty. The staircase is also a perfect example of how light and shadow can be used to create a sense of depth and dimension.

    The staircase is lit from above, creating a beautiful interplay of light and shadow. The light filters through the wood panels, creating a sense of warmth and intimacy. The shadows create a sense of depth and dimension, making the staircase feel like a living sculpture. The light and shadow also create a contrast between the organic shape of the staircase and the geometric shape of the surrounding walls, creating a dynamic and harmonious balance.

    This is just an example of how modern staircase design can use light and shadow to create stunning effects and enhance the aesthetic appeal of a space. There are many more examples of modern staircase design that use light and shadow in creative and innovative ways, such as the one in the National Museum of Scotland, or the one in the Apple Store in New York.

  • Meine LektüreNotizen

    Meine LektüreNotizen

    Lesen ist kein lineares Voranschreiten, sondern ein Vermessen von Gelände. Meine Notizen – über die Jahre hinweg entstanden, fragmentarisch, oft assoziativ – sind keine Protokolle, sondern Landkarten im Werden. Sie halten fest, wie sich Texte verzweigen: in Schluchten unerwarteter Bezüge, über Hügelkämme von Genres hinweg, durch Wälder, in denen Bücher einander wurzelhaft durchdringen.

    Inspiriert von der Praxis des Lesetagebuchs, nutze ich unterschiedlichste Formen, um diesen Prozess abzubilden: Skizzen verorten plötzliche Einsichten, Töne halten die Stimmung einer Passage fest, Filme fangen Bewegung ein, wo Worte erstarrten. Form follows function – denn nur so lässt sich erfassen, was beim Lesen geschieht: ein Dialog, der nie endet.

    Aus knapp 3000 Büchern, Essays und Werken erzählerischer Kunst sind über die Jahre Notizen entstanden, die längst ein Eigenleben entwickeln. Sie winden sich durch Zeit und Themen wie Flussläufe, die irgendwann unvermutet zusammenfinden: Ein Sachbuch über Gletscherschmelze trifft auf Kafkas Verwandlung; eine Graphic Novel öffnet ein Portal zu Brechts Theatertheorie. Solche Querverbindungen sind keine Zufälle, sondern Spuren aktiver Lektüre – ein Netz aus Pfaden, die immer neue Routen vorschlagen.

    Dabei folge ich keiner Methode, außer der, mich treiben zu lassen. Manchmal sind es Schlüsselwörter, die als Wegmarken dienen: „Scham“, „Grenze“, „Zeitlosigkeit“. Ein andermal zieht mich ein Satz wie Toni Morrisons „Du dein bestes Ding“ in einen Strudel aus Assoziationen – und plötzlich wird aus einer Notiz ein Essay, aus einem Essay eine Collage. Die Werkzeuge dafür sind so vielfältig wie das Gelände selbst: Literaturgeschichte dient als Koordinatensystem, Philosophie als Kompass, doch ebenso wichtig sind die Leerstellen, die zum Weiterdenken einladen.

    Jede Notiz ist ein Knotenpunkt. Sie verweist zurück auf frühere Lektüren, deutet voraus auf künftige. Was hier als Randbemerkung begann, wird Jahre später zur Keimzelle eines neuen Textes; was heute wie ein Irrweg erscheint, erweist sich morgen als Abkürzung. Diese Dynamik ist gewollt: Nicht Vollständigkeit ist das Ziel, sondern ein Gefüge, das stets umbaut, verwischt, ergänzt werden kann. Wie in einer topographischen Karte bleiben Höhenlinien der Interpretation sichtbar, doch die Legende bleibt beweglich – bereit, neu justiert zu werden, sobald ein anderer Blickwinkel es verlangt.

    Am Ende geht es nicht darum, Literatur zu „verstehen“, sondern sie zu bewohnen. Die Notizen sind keine Schatztruhen, sondern Bausteine für etwas, das sich erst im Entfalten zeigt: ein Archiv aus Korrekturen, ein Atlas des Möglichen. Sie laden ein, die eigenen Koordinaten zu verschieben – oder, wie Marcel Proust es nannte, „mit neuen Augen zu sehen“.

    Aktuelle LektüreNotizen

  • In Erinnerung an Cegléd 1945

    In Erinnerung an Cegléd 1945

    Heinz Römer
    József Akos Boros
    Tibor von Brody

    in Erinnerung an Cegléd 1945

    Gedruckte Widmung in der Titelei „Deutsche Lyrik aus zwölf Jahrhunderten“. Herausgegeben von Walter Urbanek; Ullstein Bücher 1965 (Meine Ausgabe)

  • Deutsche Lyrik aus zwölf Jahrhunderten

    Deutsche Lyrik aus zwölf Jahrhunderten

    Aus der Nachbemerkung des Herausgebers Walter Urbanek: Diese Sammlung soll der Freude am Gedicht dienen. Bei der Auswahl waren daher künstlerische, nicht textkritische Gesichtspunkte maßgeblich. Einige ältere Gedichte werden hier gekürzt wiedergegeben in der Absicht, zeitgebundene Schwächen wie Längen oder Wiederholungen zu beseitigen und so das Kunstwerk dem heutigen Leser näherzubringen.
    Sehr geehrter Herr Urbanek, das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen, allerdings wären mir – zumindest kurze – Hinweise, Empfehlungen zu Interpretation und gegebenfalls zeitgeschichtlicher Einordnung lieber gewesen. Und was ich besonders geschätzt hätte: Notate zur Auswahl einzelner Gedichte.

    Einen ersten Satz, der festgehalten werden könnte, gibt es hier nicht. Dafür hat mich die Widmung, der Anthologie vorangestellt ist, zunächst von der Lektüre entfernt:

    Heinz Römer
    József Akos Boros
    Tibor von Brody

    in Erinnerung an Cegléd 1945

    Was geschah damals in Cegléd? Hat die Widmung einen Bezug zur Lyrik-Auswahl? Wer sind diese Herren? (Eine – oberflächliche – Suche im Web brachte bisher keine eindeutigen Ergebnisse.)

    Herausgelesen

    Diese Sammlung wird eröffnet mit zwei Gedichten: Jospeh von Eichendorffs Der Dichter und Vorwort von Konrad Weiß. Den Schluss bilden wieder zwei Gedichte: An den Leser von Franz Werfel und davor Ingeborg Bachmanns Das Spiel ist aus.

  • Neapolitanisches Schmalzgebäck?

    Neapolitanisches Schmalzgebäck?

    Der erste Satz

    Eintausenddreihundertfünfundvierzig Jahre nach unseres lieben Heilands Geburt, und zwar genau am vierundzwanzigsten Dezember, wurden in der schönen Stadt Neapel zwei Kinder geboren: das eine in einem prunkvoll ausgestattetem Schlafraum des Castel Nuovo, das andere in einem feuchten, unterirdischen Kerkerloch des Castel dell’Ovo, das eine in einem mit weichen Daunenkissen ausgestatteten Himmelbett, das andere auf einem Haufen modrigen Strohs.

    Elisabeth Hering | Irrgarten des Lebens

  • Gebet zum Volk | Karl Bröger

    Gebet zum Volk | Karl Bröger

    Die alten Götter sind tot. 
    In diesen Tagen 
    haben wir ihre Bilder zerschlagen 
    und künden laut ein neues Gebot.
    
    Volk du bist groß 
    und unbegreiflich in deinem Tun. 
    Volk, dein Schoß 
    läßt die Kinder der Zukunft los. 
    Söhne der Lüge, Söhne der Wahrheit. 
    Brüder im Irrtum, Brüder in Klarheit 
    wirren um dich in buntem Schwarm. 
    Alle liegen in deinem Arm 
    und wollen an deinem Herzen ruhn, 
    Mutter! 
    
    Ewig junges Angesicht 
    kehrst du nach der Erde hin. 
    Große Allgebärerin, 
    du stirbst nicht. 
    Du bist unsres Lebens Leben, 
    Volk, und unser tiefster Wurzelgrund. 
    Jeder Hauch ist dir ergeben, 
    jede Hand beschwöre neu den Bund. 
    
    Tod ist Irrtum, Sterben Trug, 
    was da lebt, ist schon gewesen. 
    Immer hebt zu neuem Flug 
    sich der Geist und will in Sternen lesen. 
    Einmal müssen wir genesen, 
    und aus aller Wirrnis uns befrein. 
    Volk, dann wirst du erst geboren sein, 
    wirst dein eignes Antlitz kennen 
    und dich mit dem wahren Namen nennen. 
    
    Mächtig schwillt das Beten, Rufen, Schrein: 
    Geburt, Geburt 

    Aus: Karl Bröger | Sturz und Erhebung
    Gesamtausgabe der Gedichte
    Eugen Diederichs Verlag Jena
    1. bis 10. Tausend | 1943

    Karl Brögers „Die alten Götter sind tot“ – Ein Gedicht zwischen Revolution und Vereinnahmung

    Karl Brögers Gedicht „Die alten Götter sind tot“ entstand in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche: zwischen den Weltkriegen, in der Krise der Weimarer Republik. Es ist ein Werk voller Widersprüche – hymnisch und politisch, mythisch und agitatorisch. Die Nazis versuchten es für sich zu nutzen, doch Bröger selbst entzog sich ihrer Vereinnahmung. Was lässt sich heute noch mit diesem Text anfangen?


    Das Gedicht im historischen Kontext

    Bröger (1886–1944) war ein Arbeiterdichter, der zunächst der SPD nahestand, später aber auch nationalistische Töne anschlug. Sein Gedicht spiegelt die Suche nach einem neuen kollektiven Mythos nach dem Zusammenbruch alter Ordnungen:

    „Die alten Götter sind tot. / In diesen Tagen / haben wir ihre Bilder zerschlagen / und künden laut ein neues Gebot.“

    Diese Zeilen erinnern an Friedrich Nietzsches „Gott ist tot“, aber sie sind auch ein Aufruf zur kollektiven Erneuerung – sei sie sozialistisch, nationalistisch oder spirituell.


    Warum die Nazis Bröger vereinnahmen wollten

    Die NS-Propaganda mochte seine völkisch-pathetische Sprache:

    • Das „Volk“ wird als ewige, lebensspendende Kraft dargestellt („Mutter! / Ewig junges Angesicht“).
    • Begriffe wie „Geburt“ und „neues Gebot“ ließen sich als Vorwegnahme der NS-„Volksgemeinschaft“ deuten.

    Doch Bröger widersetzte sich:

    • Er trat nicht der NSDAP bei und blieb seiner sozialdemokratischen Haltung treu.
    • Nach 1933 zog er sich zurück, schrieb harmlosere Texte (Naturlyrik, Kinderbücher).
    • Die Nazis zensierten später sogar einige seiner Werke – sie passten nicht ins Regime.

    Was das Gedicht heute noch aussagt

    a) Sprache und Macht

    Das Gedicht zeigt, wie unbestimmte Begriffe („Volk“, „Geburt“) politisch umgedeutet werden können.

    • Aktueller Bezug: Heutige Populismen nutzen ähnliche Mythen („Wir sind das Volk“, „Great Again“).

    b) Die Sehnsucht nach Gemeinschaft

    Brögers Text spricht eine tiefe Suche nach Zugehörigkeit aus – eine Reaktion auf die Krisen seiner Zeit.

    • Heutige Parallele: In Zeiten von Digitalisierung und Vereinzelung sehnen sich viele nach neuen kollektiven Identitäten (ob in Politik, Subkulturen oder Religion).

    c) Kunst zwischen Vereinnahmung und Widerstand

    Das Gedicht steht in einer Grauzone:

    • Es ist weder eindeutig faschistisch noch klar widerständisch.
    • Es wirft die Frage auf: Wie gehen wir mit „belasteter“ Kunst um? Dürfen wir sie lesen, ohne ihre historische Instrumentalisierung zu reproduzieren?

    Ein Text, problematisch und wichtig

    Brögers Gedicht ist kein unproblematisches Werk, aber ein wichtiges Zeitdokument. Es zeigt:

    • die Macht der Sprache,
    • die Gefahren politischer Vereinnahmung,
    • die ewige Suche des Menschen nach Zugehörigkeit.

    Für heutige Lesende ist es vor allem eine Einladung zur kritischen Reflexion:

    • Welche „neuen Mythen“ schaffen wir heute?
    • Wie vermeiden wir, dass sie zu Werkzeugen der Spaltung werden?
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