Ein Roman, dessen Handlung durch sequentielle Bildfolgen dargestellt wird, wird oft als „Graphic Novel“ oder „Bilderroman“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Erzählform, die sich zwischen Literatur und Kunst bewegt. Einige Beispiele:
„Maus“ – Art Spiegelman (1980–1991) – (Im Bestand)
Thema: Holocaust, Trauma, Erinnerung
Inhalt:
- Art Spiegelman erzählt die Geschichte seines Vaters Wladek Spiegelman, der den Holocaust überlebte.
- Die Figuren sind als Tiere dargestellt (Juden = Mäuse, Deutsche = Katzen, Polen = Schweine).
- Die Bildsprache verstärkt die emotionale Wucht der Erzählung, indem sie Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkt.
- „Maus“ war die erste Graphic Novel, die einen Pulitzer-Preis gewann.
„Persepolis“ – Marjane Satrapi (2000) – (Im Bestand)
Thema: Islamische Revolution im Iran, Identität, Exil
Inhalt:
- Marjane Satrapi schildert ihre Kindheit und Jugend während und nach der Islamischen Revolution.
- Die Bilder sind schwarz-weiß und stilisiert, um die Kontraste zwischen Freiheit und Unterdrückung zu verdeutlichen.
- Die autobiografische Erzählweise macht die politischen Umstände persönlich erfahrbar.
„Sandman“ – Neil Gaiman (1989–1996) – (Im Bestand)
Thema: Mythologie, Träume, Philosophie
Inhalt:
- Die Geschichte dreht sich um „Dream“, den Herrscher über das Traumreich, der nach langer Gefangenschaft in eine sich verändernde Welt zurückkehrt.
- Visuell und narrativ sehr experimentell, nutzt Gaiman oft verschiedene Zeichenstile und Erzähltechniken.
- Verknüpft klassische Literatur, Mythologie und Horror mit modernen Comics.
„Jimmy Corrigan – The Smartest Kid on Earth“ – Chris Ware (2000) – (Im Bestand)
Thema: Einsamkeit, Familie, Kindheitstrauma
Inhalt:
- Die Graphic Novel erzählt die Geschichte von Jimmy Corrigan, einem sozial unbeholfenen, schüchternen Mann, der nach Jahrzehnten Funkstille seinen entfremdeten Vater trifft.
- Die Geschichte wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen – Jimmys trostlosem Erwachsenenleben in der Gegenwart und Rückblenden in seine Kindheit sowie die Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg.
- Ware zeichnet ein extrem nüchternes, oft bedrückendes Bild über Einsamkeit, soziale Isolation und die Unfähigkeit zur emotionalen Kommunikation.
Was macht das Buch besonders?
- Visuelle Erzählweise: Ware nutzt ungewöhnliche Seitenlayouts, Diagramme, winzige Panels und eine kühle, minimalistische Farbpalette, um Emotionen und Zeitabläufe darzustellen.
- Kein klassischer Spannungsbogen: Die Geschichte folgt keiner typischen Heldenreise, sondern ist eine introspektive Charakterstudie mit tiefgründigen Beobachtungen des Alltags.
- Architektonische Gestaltung: Ware ist stark von Architektur beeinflusst – seine Seiten erinnern oft an technische Zeichnungen oder Stadtpläne.
Auszeichnungen:
- „Jimmy Corrigan“ gewann 2001 den Guardian First Book Award – als erste Graphic Novel überhaupt.
- Außerdem erhielt das Buch mehrere Eisner Awards, den wichtigsten Preis für Comics und Graphic Novels.
Chris Ware hat auch andere beeindruckende Werke wie „Building Stories“ (2012) geschaffen, das als eine Art literarisches Baukastensystem funktioniert – mit einzelnen Heften, Zeitungsseiten und Postern, die in einer Box geliefert werden und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können.
„Blutch – Peplum“ (1997)
Thema: Antike, Macht, Verrat
Inhalt:
- Inspiriert von „Satyricon“ von Petronius, erzählt diese Graphic Novel von einem römischen Exilanten.
- Die Bildsprache ist düster und expressiv, was zur brutalen, poetischen Handlung passt.
„Die geheimnisvollen Städte“ (Les Cités Obscures, ab 1983) – Francois Schuiten – (Teilweise im Bestand)
Schuiten arbeitet an der Grenze zwischen Graphic Novel, Architekturzeichnung und Science-Fiction. Seine Werke sind keine typischen Comics mit schnellen Dialogen und Action, sondern eher grafische Romane, in denen die Bilder oft mehr erzählen als der Text.
Thema: Alternative Welten, Architektur, Utopien/Dystopien
Inhalt:
- Die Reihe spielt in einer parallelen Welt, in der es riesige, teils groteske Städte gibt, inspiriert von Jugendstil, Bauhaus und utopischer Architektur.
- Es gibt keine klassische Heldenreise – stattdessen stehen Stadtlandschaften, Strukturen und Gesellschaften im Mittelpunkt.
- Die Erzählweise ist oft fragmentarisch, mit Einflüssen aus Jules Verne, Kafka und den großen Visionären der Architektur (z. B. Étienne-Louis Boullée).
- Die Bilder sind extrem detailliert, oft in sepiafarbenen Tönen oder mit feinen Schraffuren.
Was macht Schuiten besonders?
- Er erschafft starke visuelle Erzählwelten, die oft mehr durch Architektur als durch Handlung wirken.
- Die Städte wirken wie lebendige Organismen mit eigenen Geschichten.
- Seine Werke haben eine fast literarische Qualität – oft mit philosophischen oder gesellschaftskritischen Untertönen.
„Madame Choi and the Monsters“ – Patrick Spät und Sheree Domingo (2024)
Thema: Entführung, Filmgeschichte, Nordkorea
Inhalt:
- Basierend auf der wahren Geschichte der südkoreanischen Schauspielerin Choi Eun-Hee und ihres Ex-Mannes, des Regisseurs Shin Sang-ok, die 1978 von nordkoreanischen Agenten entführt wurden.
- Unter der Aufsicht von Kim Jong-il wurden sie gezwungen, Filme für das nordkoreanische Regime zu produzieren, darunter „Pulgasari“, eine Art nordkoreanischer Godzilla-Film.
- Die Graphic Novel fängt ihre dramatische Geschichte mit lebhaften Illustrationen ein und beleuchtet sowohl ihr persönliches Schicksal als auch die Filmproduktion unter Zwang.
- Nach mehreren Jahren gelang ihnen 1986 während eines Festivals in Wien die Flucht in die Freiheit.
- Bereits in Deutschland preisgekrönt, bietet das Buch einen fesselnden Einblick in ein kaum bekanntes Kapitel der Filmgeschichte. The Guardian
„Elise and the New Partisans“ – Jacques Tardi (2024)
Thema: Politischer Aktivismus, 1960er Jahre, persönliche Entwicklung
Inhalt:
- Erzählt die Geschichte von Elise, die während ihrer Schulzeit eine politische Bewusstwerdung erlebt und sich in den 1960er Jahren den neuen Partisanen anschließt.
- Die Handlung ist inspiriert von der frühen Aktivismuszeit von Dominique Grange, der Partnerin des Autors.
- Die schwarz-weißen Illustrationen zeigen das Paris der damaligen Zeit und verbinden persönliche Erlebnisse mit historischen Ereignissen wie den Mai-Unruhen 1968.
- Die Graphic Novel bietet einen Einblick in die politische und persönliche Entwicklung einer jungen Frau in einer turbulenten Epoche. newyorker.com
„Kartographie“ – Sike (2025)
Thema: Stadterkundung, Studentenproteste, persönliche Identität
Inhalt:
- Die Hauptfigur erkundet die Straßen von Buenos Aires, erlebt Studentenproteste, Hausbesetzungen und Polizeigewalt.
- Mit einem dünnen Strich, der an Kugelschreiber-Zeichnungen erinnert, schafft der argentinische Zeichner Sike ungewöhnliche Bilder, die die persönliche Sicht der Protagonistin widerspiegeln.
- Stadtpläne verwandeln sich in Menschen oder andere Objekte und dienen als Allegorie für den Seelenzustand der Hauptfigur.
- Eine philosophische und zugleich alltagsnahe Erzählung über das Leben in einer pulsierenden Metropole. ndr.de
„Murr“ – Josephine Mark (2022)
Thema: Western-Parodie, schwarzer Humor, Tod
Inhalt:
- Erzählt die skurrile Geschichte des Revolverhelden Murr, der einen Deal mit dem Tod eingeht.
- Mit schwarzem Humor und einer unkonventionellen Erzählweise wird die Western-Thematik auf den Kopf gestellt.
- Die Graphic Novel wurde 2022 mit dem ICOM Independent Comic Preis in der Kategorie „Bester Independent Comic“ ausgezeichnet.
- Eine erfrischende Parodie auf das Western-Genre mit tiefgründigen Untertönen. Designer in Action
„Der große Zwischenfall“ – Zelba (2025)
Thema: Kunst, weibliche Darstellung, Museumswelt
Inhalt:
- Im Louvre verschwinden plötzlich alle weiblichen Aktmodelle aus Gemälden und Skulpturen kurz vor der Ernennung eines neuen Direktors.
- Eine kleine Gruppe versucht, die Modelle zurückzubringen, um einen Skandal zu vermeiden.
- Die Geschichte wird aus der Perspektive der dargestellten Frauen erzählt, die sich nur begafft und gedemütigt fühlen.
- Mit cartoonesken Zeichnungen in Schwarz und Rot bietet die Graphic Novel eine unterhaltsame und nachdenkliche Verwechslungskomödie.
Unterschiede zur klassischen Comic-Erzählung
Graphic Novels sind oft tiefgründiger und erwachsener als herkömmliche Comics. Sie können:
- literarische oder philosophische Themen aufgreifen,
- eine komplexe Bildsprache verwenden,
- einen zusammenhängenden Erzählbogen haben (im Gegensatz zu episodischen Comics).
Hinweis: Die genannten Beispiele dienen als Orientierung und sind nicht als Einladung zu einer Grundsatzdiskussion über die Definition von Graphic Novels und Comics gedacht. In diesem Zusammenhang zählt meine persönliche Wahrnehmung als ausschlaggebend. Ich freue mich jedoch über weiterführende Anregungen oder Empfehlungen.